Zusman Segalovitsh beschreibt die immense Fluchtbewegung in Polen, September 1939

In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939, nur wenige Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen, entschied sich eine Gruppe jüdischer Journalisten und Schriftsteller auf Geheiß der polnischen Regierung Warschau in Richtung Osten zu verlassen, um dem deutschen Vormarsch zu entkommen. Unter ihnen war Zusman Segalovitsh (1884–1949), der vom Anblick der immensen Fluchtbewegungen auf dem Landweg in Polen 1939 in Richtung Osten gebannt war.

דער צוג שטײט, דער מאַשיניסט מיטן הײצער שלאָפֿן אויפֿן גראָז. קײן אַעראָפּלאַנען זעט מען נישט. רואיק אַרום. רואיק און לאַנגװײליק ביז װײטיק, ביז איבער אַלע װײטיקן פֿון דער װעלט.

[…] אָן מײַן װילן, פֿון לאַנגװײליקײט, רוק איך זיך אָפּ פֿון מײַנע חבֿרים, פֿון צוג און איך גײ צום װעלדל, װאָס זעט זיך פֿון װײַטן. […] געענדיקט דאָס װעלדל און אָט אַ שאָסײ… אַ שאָסײ, און אויפֿן שאָסײ פֿיל, פֿיל מענטשן, גאַנצע מחנות. […] די איצטיקע מאַסע האָט זיך פּשוט אַרויסגעשאָטן פֿון װאַרשע און פֿון די דערבײַאיקע שטעט. די קאָמענדאַנטן פֿון דער מאַכט האָבן אַרויסגעגעבן באַפֿעלן, אַז די אַלע, װאָס אונטערליגן צו מיליטער־דינסט, זאָלן אַװעק, כּדי נישט אַרײַנצופֿאַלן צום שׂונא. אָבער אַרויסגעגאַנגען זענען נישט נאָר די װעלכע זענען געװען אין מיליטער־עלטער. עס זענען געגאַנגען אַלע, יונג און אַלט, געזונט און שװאַך. […] איך בין געגאַנגן מיט אַלעמען צוגלײַך. איך האָב געמוזט מיט זײ אַביסל גײן. זײער מאַרש האָט אין זײַן טראַגיזם אויסגעזען טיפֿער, מיסטישער, װי אונדזער קריכן מיט דעם צוג אין די שמוציקע װאַגאָנעס. איך האָב זיך געװאָלט אויף אַ רגע פֿאַראײניקן מיט די אַלע… […]

איך קוק אויף די אַלע מענטשן און װאָס װעט זײַן מיט זײ? װי װײַט װעלן זײ דערגײן? און װאָס װעט זײַן מיט מיר? איך דערמאָן זיך אָן מײַן צוג, װעלכן איך האָב דאָרט איבערלאָזן און אין דער רגע זעט עס מיר אויס, אַז אין צוג, בלויז אין צוג, איז מײַן רעטונג. איך נעם גײן צוריק צו מײַנע חבֿרים.

Unser Zug stand auf der Stelle, wie angewurzelt. Es war mitten am Tag. Sonntag, halb warm, strahlend soweit das Auge reichte. Überall Ruhe und Versprechen. Vergiss für einen Moment, was der Teufel auf die Welt gebracht hat, dann wirst du vor dir eine schöne Welt haben. Herbst, die Natur ruht sich aus, dort haben Menschen vor kurzem erst von den Feldern das Korn geerntet, die Früchte von den Gärten abgenommen und auf zum Festmahl… Nein! Sie sind weg, um zu töten, zu vernichten und umzukommen. […] Der Zug stand, der Zugführer mit dem Heizer schliefen auf dem Gras. Flugzeuge sah man nicht. Es war ruhig. Ruhig und langweilig, bis es schmerzte, mehr als jeder Schmerz der Welt. […]

Ohne meinen Willen, aus Langeweile, rückte ich weg von meinen Freunden, vom Zug und ging zum Wäldchen, das man in der Ferne erblickte. […] Hinter dem Wäldchen war eine Chaussee… Eine Chaussee, und auf der Chaussee viele, viele Menschen, ganze Menschenmassen. […] Diese Massen hier strömten einfach aus Warschau und aus den umgebenden Städten heraus. Die Kommandanten von den Autoritäten gaben Befehle heraus, dass alle die, die dem Militärdienst unterliegen, weggehen sollen, um nicht in die Hände des Feindes zu fallen. Aber gegangen sind nicht nur die, die im Militäralter waren. Alle sind gegangen, jung und alt, gesund und schwach. […] Ich bin mit allen zusammen gegangen. Ich musste ein bisschen mit ihnen gehen. Ihr Marsch sah in seiner Tragik tiefer, mystischer aus als unser Kriechen mit dem Zug in den schmutzigen Waggons. Ich wollte mich auf der Stelle mit ihnen vereinigen… […]

Ich guckte auf all die Menschen, und was wird aus ihnen werden? Wie weit werden sie es schaffen? Und was wird aus mir? Ich erinnerte mich an meinen Zug, den ich dort hinterlassen habe und in diesem Moment kam es mir so vor, dass in diesem Zug, nur in diesem Zug, meine Rettung ist. Ich begann, zurück zu meinen Freunden zu gehen.

Zusman Segalovitsh (1884–1949), 11Für biographische Details siehe Cohen, Nathan: Segalovitsh, Zusman in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Segalovitsh_Zusman (25.9.2019). gilt als einer der populärsten jiddischen Schriftsteller im Polen der Zwischenkriegszeit. Er war einer der wenigen polnisch-jüdischen Schriftstellern, die einen Sitzplatz im sogenannten Journalistenzug ergattern konnten, der in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939 Warschau vorerst in Richtung Lublin verließ, um dem deutschen Einmarsch zu entgehen, und am 10. Oktober 1939 in Vilnius ankam. Auf der langen, gefährlichen und erratischen Flucht mit dem Zug konnte Segalovitsh auch die immense Fluchtbewegung auf dem Fußweg beobachten – zwei sehr unterschiedliche Fluchtformen, die nicht nur die intellektuelle Elite von anderen sozialen Schichten trennt, sondern laut Segalovitsh auch mit anderen Formen von Gemeinschaft, Mühsal und Tragik verbunden sind.

Segalovitsh erreichte Vilnius, wo er zwei Jahre blieb. 1941 verließ er Vilnius, um über die Sowjetunion nach Palästina zu gelangen, und überlebte so die Shoah. 1948 erreichte er die USA, wo er bis zu seinem Tod 1949 lebte.

    Fußnoten

  • 1Für biographische Details siehe Cohen, Nathan: Segalovitsh, Zusman in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Segalovitsh_Zusman (25.9.2019).

Exzerpte aus:

Segalovitsh, Zusman, 1947: Gebrente Trit : Eyndrikn un iberlebungen fun a pleytim-vanderung, Buenos Aires: Tsentral-Farband fun poylishe yidn in Argentine, Kapitel 4: Mentshn oyfn shosey…, 66–69.

Von der Steven Spielberg Digital Yiddish Library des Yiddish Book Center.