Mendel Balberyszski: Pogrom in Vilnius, Oktober 1939
Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź. Nach einer fast einmonatigen Flucht durch Polen und über ukrainische Dörfer kam er am 29. September 1939 über den Fußweg in seiner Heimatstadt Vilnius an. Er erlebte den Anschluss Vilnius an Litauen und wurde am 31. Oktober 1939 Zeuge und Betroffener des Pogroms, das in Vilnius direkt nach dem Abzug der Roten Armee ausbrach. Er analysiert aus seiner migrantisch-jüdischen Sicht, wie es zu dem Pogrom kommen konnte, und erzählt von den Auswirkungen.
Ende Oktober sind die Litauer in der Stadt angekommen: Soldaten, Polizei und zivile Beamte. Es war schon bekannt, dass Litauen Vilnius übernehmen würden und dass sie in Kovno schon einen administrativen Apparat eingereichtet haben, um die Stadt zu verwalten.
Die Rote Armee hat die Amtsgewalt der Kovner Regierung übergeben. Und so wurde Vilnius wieder an Litauen angeschlossen.
Am Dienstag, den 31. Oktober, brach in Vilnius ein Pogrom aus. Laut dem, was die Litauer später erklärten, geschah dies wegen eines jungen jüdischen Mannes, der von einem Magistratsgebäude eine litauische Fahne abgerissen habe. Eigentlich sind die Unruhen aber aufgrund von Provokationen von Litauern hevorgerufen worden. Woher jedoch direkt so viele Progromisten kamen; wo sie so schnell die Torah des Schlagens, des Ausraubens und Vernichtens von Hab und Gut auswendig gelernt haben – das war nicht zu verstehen. Jede Stunde gab es neue schäuderliche Neuigkeiten: dass auf der Boyakes Straße ein Hauswächter den Hausbesitzer von Balkon geworfen hat, dass man die Federn aus den Kissen herauslässt, die Häuser ausraubt und alles zerstört.
Wir haben im Stadtzentrum gewohnt und alle Bewohner haben sich in einem Zimmer versammelt und durch das Fenster gesehen, wie litauische Soldaten nach Juden jagen und sie erbarmungslos mit den Gewehrkolben schlugen. Erst als Dr. Wygodzki [anerkannter Kopf der offiziellen Jüdischen Gemeinde Vilnius, zionistischer Aktivists und ehemaliger Vertreter im Polnischen Sejm] dem litauischen Stadtkommandanten erklärte, dass er sich für Unterstützung an den Kommandanten der Roten Armee wenden wird, der sich in Porubanek, 4 Kilometer von Vilnius entfernt, befände, hat der litauischen Kommandant Patrouillen ausgeschickt und so die Lage direkt beherrscht.
Als ich so am Fenster stand und die Geschehnisse beobachtete, habe ich gesehen, wie eine Gruppe von unverschämten Kerlen einen Juden jagen und ihn erbarmungslos zusammenschlagen.
Ich begann, ihnen mit der Faust durch das Fenster zu drohen. Meine Mitbewohner haben angefangen, mich anzuschreien, dass ich unser Haus ins Verderben treiben werde. Sehr bald haben tatsächlich Steine angefangen, durch das Fenster zu fliegen. Alle Scheiben und die große Lampe sind zerbrochen und das gesamte Essen wurde von Glas bedeckt.
„Das hast du von deinem Heldentum“, sagten mir meine Mitbewohner.
[…]
Genau in dieser Zeit hat die jüdische Jugend angefangen, die Stadt massenhaft zu verlassen und in die Sowjetunion zu ziehen.
[…]
Die Autoritäten erteilten Ausfahrscheine, ein Zögern war genug und man verließ die Stadt auf legalem und illegalem Wege.
Leider war der Anfang der litauischen Herrschaft ein bitterer für Juden, und ihr Ende – das finsterste, was sich selbst die schäuderlichsten Fantasien nicht hätten vorstellen können.
Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź, Polen. In der Zwischenkriegszeit war er Herausgeber der jiddischen Zeitung Der Tog (Der Tag) in seiner Heimatstadt Vilnius. Er verließ Vilnius und wurde Mitglied der polnisch-jüdischen Folkspartey (Volkspartei), um für kulturelle Autonomie der polnischen Judenheit zu streiten. 1925 gründete Balberyszski in Łódź den Verbund jüdischer Handwerker und Kleinunternehmer und wurde der Präsident der größten jüdischen Hilfsorganisation Noten Lekhem (Brotgeber). 1939 führte er die Polnische Demokratische Partei an, einer der drei wichtigsten politischen Parteien im Polen der Zwischenkriegszeit. In den ersten Septembertagen 1939 entschloss er sich vor der deutschen Wehrmacht nach Vilnius zu fliehen, wo er am 29. September erleichtert ankam.
Bei Balberyszskis Aufzeichnungen handelt es sich um einen Augenzeugenbericht über das Pogrom in Vilnius Ende Oktober 1939. In der Tat kam es mit dem Abzug der Roten Armee und der Verlegung litauischer Truppenteile am 28. Oktober 1939 nach Vilnius nicht nur in Vilnius, sondern auch in Naujoji Vilnia, Maišiogala und Pabradė zu dreitätigen antijüdischen Ausschreitungen, die schnell in Pogrome umschlugen. Entgegen Balberyszskis Angaben, wurden diese vor allem von ethnischen Polen begangen und hatten als antilitauische und antisowjetische Demonstrationen begonnen, die sich dann auch schnell gegen Jüdinnen*Juden richteten. Dass die litauische Regierung selber hinter den Pogromen steckte, hat die Forschung entgegen Balberyszski widerlegt, allerdings bleibt die Rolle der litauischen Polizei unklar; Balberyszski und andere Quellen weisen auf eine Mittäterschaft hin. Bis zum 31. Oktober 1939 wurde ein Jude namens Fayvl Magun getötet, hundert weitere verletzt und jüdische Geschäfte geplündert. 11Dieckmann, Christoph, 2011: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Band 1. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 142–143; Levin, Dov, 2008, pp. 107–137. The Jews of Vilna under Soviet Rule, 19 September–28 October 1939, in: Polin: Studies in Polish Jewry Volume 9. Insbesondere im Angesicht der Pogrome, aber auch aufgrund ideologischer Nähe zum Kommunismus oder der Hoffnung auf bessere Zukunftschancen, verließen bis zum 11. November 1939 zwischen 2000 und 3000 Jüdinnen*Juden Vilnius und zogen in sowjetische Gebiete. 22Levin, Dov, 1995. The Lesser of Two Evils: Eastern European Jewry Under Soviet Rule, 1939-1941. Philadelphia : Jewish Publication Society, 181.
Nach der deutschen Besatzung Litauens überlebte Balberyszski die „Liquidierung“ des kleinen und großen Ghettos in Vilnius und erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in einem Konzentrationslager in Estland. Nach Kriegsende emigrierte er nach Australien und engagierte sich weiter aktiv in jüdischer Gemeindearbeit. Er gründete die Gesellschaft von Partisanen und Lagerüberlebenden, von der er der Präsident wurde. Seine Erinnerungen, darunter auch dieser Text, wurden 1967 unter dem Titel Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe veröffentlicht.
Fußnoten
1Dieckmann, Christoph, 2011: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Band 1. Göttingen: Wallstein Verlag, S. 142–143; Levin, Dov, 2008, pp. 107–137. The Jews of Vilna under Soviet Rule, 19 September–28 October 1939, in: Polin: Studies in Polish Jewry Volume 9.
2Levin, Dov, 1995. The Lesser of Two Evils: Eastern European Jewry Under Soviet Rule, 1939-1941. Philadelphia : Jewish Publication Society, 181.
Exzerpt:
Mendel Balberyszski, Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe, Band 1 (Tel Aviv: HaMenorah, 1967), 73–75.