Bertolt Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten (1937)

Bertolt Brechts Gedicht über die Unterscheidung von Emigration und Exil

Sacre Coeur Paris, 1938, photographed by Fred Stein. © Fred Stein Archive, with kind permission of Peter Stein.

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:
Emigranten.
Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da
aufnahm

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Sunde täuscht uns nicht! Wir hören die
Schreie

Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenzen. Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.

Bertolt Brecht (1898-1956) war ein Dramatiker. Weil er Kommunist war und sich seine politischen Überzeugungen in seinen Theaterstücken widerspiegelten, verließ er Deutschland bereits nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 noch vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialist*innen. Er floh über Prag, Wien, Zürich und Paris nach Dänemark. 1935 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt, was ihn zum Staatenlosen machte.

Brecht schrieb Dramen, die teilweise auch in Paris aufgeführt wurden, und verfasste Beiträge für Exilzeitschriften in verschiedenen Städten Europas. Fünf Jahre lebte er mit seiner Familie in einem Haus in Dänemark, bis er 1941 über die Sowjetunion in die USA ausreisen konnte. Dort lebte er weitere fünf Jahre, doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 machte ihm seine kommunistische Überzeugung Schwierigkeiten: Einerseits hegte er eine Abneigung gegen die USA, andererseits stand er angesichts des sich anbahnenden Kalten Krieges als Kommunist unter Generalverdacht. 1947 reiste er in die Schweiz, ein Jahr später kehrte er nach Berlin zurück. In Ost-Berlin gründeten er und seine Frau Helene Weigel das erfolgreiche Theater Berliner Ensemble, das noch heute besteht.

In seinem Gedicht „Über die Bezeichnung Emigranten“, das er 1937 im Pariser Exil verfasste, setzt sich Brecht mit dem Wort „Emigrant“ auseinander, das seiner Meinung nach auf die vor dem Nationalsozialismus geflohenen Menschen nicht zutreffend sei – vielmehr seien sie „Vertriebe, Verbannte“, ihr Aufnahmeland „kein Heim“, sondern „Exil“. Damit differenziert Brecht ausdrücklich Geflüchtete von Emigranten, da sie nicht „nach freiem Entschluss“ in ein anderes Land gingen, sondern dazu gezwungen waren. Gleichzeitig betont Brecht, dass er sich nach der Rückkehr in seine Heimat sehnt. Er beschreibt Hoffnung auf eine Verbesserung der politischen Lage in Deutschland sowie den Entschluss, nicht aufzugeben und die nationalsozialistische Verfolgung weder zu vergessen noch zu verzeihen.

„Über die Bezeichnung Emigranten“, aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. © Bertolt-Brecht-Erben / Suhrkamp Verlag 2000.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags.