Prof. Dr. E. Auerbach
Istanbul-Bebek
Arslanli Konak
Dr. Martin Hellweg
Lindenstr. 17
Fulda
U.S. Zone Hessen
germany
22.6.46
Lieber Hellweg,
Ich habe mich sehr gefreut[,] dass Sie alles intakt überstanden haben. Von den deutschen Zuständen kann ich mir trotz aller Berichte und Briefe nur schwer eine Vorstellung machen; hätte ich etwas Bewegungsfreiheit (aber ich habe weder Pass noch Geld)[,] so würde ich versuchen[,] eine Erkundungsfahrt zu unternehmen, aber so ist es ganz unmöglich. Dagegen scheint es möglich überhaupt zurückzukehren, da ich höre[,] dass mich die Marburger wiederberufen wollen; und Krauss rät energisch das anzunehmen, im Gegensatz zu allen anderen, die zu diesem Problem im allgemeinen Stellung nehmen. Es wäre eine schwere Entscheidung, wenn mir die Umstände Freiheit zu einer schnellen Entscheidung liessen; aber es wird, selbst wenn die offizielle Berufung bald erfolgte, vermutlich sehr lange dauern[,] bis ich mich von hier loslösen könnte, und bis dahin werden sich die Verhältnisse wohl etwas geklärt haben. Jedenfalls glaube ich, dass man etwas Geduld haben muss mit der Zähflüssigkeit der Deutschen und ihrem Festhalten am Schein der Bürgerlichkeit. Bürgerlichkeit ist ja nicht nur eine politische Haltung, sondern ein menschliches Bedürfnis, und auch die aus revolutionären Ereignissen hervorgegangene Gesellschaft strebt schleunigst nach einem Alltag mit Sicherheit und gewohnter Ordnung. Nach drei Jahrzehnten so ungeheuerlicher Experimente, nach diesem Ende, und in dem gegenwärtigen Zustand können die Deutschen nichts anders sein als schrecklich müde und ruhebedürftig, ohne das Ihnen doch vorläufig Aussicht auf Ruhe geboten wird.
Krauss‘ Gesundheitszustand macht mir viel Sorge, vermutlich braucht er eine viel bessere Ernährung um sich zu erholen; einige Freunde und ich bemühen uns[,] Pakete an ihn gelangen zu lassen ; von hier aus geht alles leider entsetzlich mühselig und langsam. Was ist aus den übrigen Genossen des einstigen romantischen Stabes geworden? Wissen Sie etwas von Honsberg , Blackert , Janik , Viebrock ?
Uns ist es wider jede Wahrscheinlichkeit gut gegangen; die neue Ordnung drang nicht bis zu den Meerengen; damit ist eigentlich alles gesagt. Wir haben in unserer Wohnung gelebt und nichts erlitten als kleine Unbequemlichkeiten und Furcht: bis Ende 42 sah es sehr böse aus, aber dann verzog sich die Wolke allmählich. Unser Sohn Clemens hat das hiesige amerikanische College besucht, und dann haben wir einige Jahre gearbeitet, um ihn als Immigrant nach USA zu schicken; eine andere Möglichkeit gab es nicht. Schliesslich ist es gelungen, und seit einem Jahr studiert er in Harvard Chemie; die Trennung war etwas bitter, besonders für meine Frau, denn die Aussichten in absehbarer Zeit wieder zusammentreffen [handschriftliche Anfügung am unteren Blattrand: sind ganz unsicher]. Ich habe eine Menge gearbeitet, trotzdem mir die wichtigsten Bücher fehlten; Sie werden wohl mit der Zeit einiges davon zu Gesicht bekommen; bisher ist noch wenig gedruckt, aber in diesem Herbst soll mehreres auf einmal erscheinen. Sehr neugierig bin ich auf Krauss‘ letzte Schriften, aber noch scheinen Drucksachen nicht zugelassen zu sein. Wollen Sie mir nicht etwas Näheres über Ihre eigene Produktion mitteilen, auch wenn sie nicht romanistisch ist? Sind Sie eigentlich in Verbindung mit Borkenau , der ja in Marburg gelandet ist? Und bei welcher Gelegenheit haben Sie in der Frankfurter Universität gesprochen? Wissen Sie zufällig wie es dem dortigen Romanisten Erhard Lommatzsch geht? – Unter den vielen Annehmlichkeiten unseres hiesigen Unterstandes (Löwith schrieb mir einmal, noch von Japan: herzliche Grüße von Dach zu Dach) ist eine der wichtigsten, dass wir sie mit einer ganzen Anzahl von Schicksalsgenossen teilen, Emigranten der verschiedensten Kategorien, meist auch an der Universität, darunter sehr gescheite und sympathische. Es ist uns wirklich nicht schlecht gegangen, nur dass wir ziemlich arm geworden sind; Reserven habe ich damals nicht herausbringen können, das Gehalt ist sehr entwertet, und Clemens‘ Expedition und Studium drüben ist auch eine finanziell schwierige Unternehmung, sodass allmählich alle Wertgegenstände draufgehen, selbst ein Teil meiner Bücher. Aber das sind bourgeoise Sorgen… Türken sind wir nicht geworden, nicht einmal rechtlich, jetzt sind wir wieder „passlose Deutsche“; alles ist provisorisch. An der Universität haben wir wohl einiges erreicht, aber längst nicht so viel als möglich gewesen wäre; die unsichere und oft dilettantische Politik der Verwaltung erschwert das Arbeiten sehr, wobei zuzugeben ist, dass sie es nicht leicht hat; ich habe hier gelernt, wie schwer es ist[,] ein nicht europäisches land in kurzer Zeit zu europäisieren; die Gefahr der praktischen und moralischen Anarchie ist sehr groß.
So, nun schreiben Sie bald wieder. Meine Frau grüsst herzlich, und ich bin mit den besten Wünschen für Sie und die Ihrigen.
Ihr Erich Auerbach
Erich Auerbach war deutscher Romanist, Literatur- und Kulturwissenschaftler. Wie für unzählige andere wurde seine Laufbahn in Deutschland aufgrund des am 7. April 1933 ratifizierten, rassistischen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums,“ das sowohl auf die Entfernung jüdischer Beamter als auch auf die Entlassung politisch Andersdenkender zielte, vorzeitig beendet. Da bei ihm das sogenannte Frontkämpferprivileg griff und er zusätzlich 1934 sogar einen “Treueid deutscher Beamter” auf Adolf Hitler schwor, verlor er seinen Lehrstuhl für romanische Philologie an der Universität Marburg “erst” Ende 1935. Mehr als absehbar kontaktierte er jedoch schon im Verlauf des Jahres 1935 Kollegen in Italien, England und anderen Orten, um eine Anschlussstelle, selbst weit unter dem Rang des Professors, zu finden. Dank der Vermittlung der 1933 gegründeten konfessionsübergreifenden und antirassistischen Selbsthilfeorganisation “Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland,” die ab 1933 schwerpunktmäßig in die Türkei vermittelte, folgte er schließlich dem Ruf an die İstanbul Üniversitesi. Letztere war 1933 im Rahmen des kemalistischen Westernisierungs- und Modernisierungsprogramms gegründet worden und hatte u.a. die Anwerbung von Expert*innen zur Aufgabe. Auf diesem Wege emigrierten mehrere hundert deutsche Intellektuelle und ihre Familien den Auerbachs gleich in die Türkei, vor allem in die städtische Zentren Istanbul und Ankara, und wurden dort in die Arbeit der Universitäten und Ministerien eingebunden. Da Auerbachs Hoffnung auf eine Rückkehr auf den Lehrstuhl einer deutschen Universität unerfüllt blieb, emigrierte er 1947 von der Türkei in die USA, wo er seine wissenschaftliche Laufbahn fortsetzte. Er zählt noch heute zu den bedeutendsten Vertretern seines Faches. Sein in Istanbul zwischen 1942 und 1945 entstandenes Hauptwerk „Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“ gehört zu den grundlegenden Werken der deutschen Romanistik.
Nach Kriegsende nahm Auerbach den Kontakt zu Martin Hellweg (1908–?) wieder auf. Hellweg war zu Marburger Zeiten Auerbachs Student und ab Auerbachs Amtsenthebung im Oktober 1935 Assistent des Nachfolgers und Widerstandsaktivisten Werner Krauss. Ein auf Vertrauen fußendes Verhältnis verband Auerbach und Hellweg. Im Auftrag seines Mentors besuchte Hellweg beispielsweise Ende September 1935 den in Montparnasse, 23, rue Bénard, unter ärmlichen Bedingungen lebenden Kulturkritiker Walter Benjamin, der wie viele andere 1933 vor den Nationalsozialisten ins Pariser Exil geflohen war, um letzterem als vertraulicher Bote von Auerbach Geld zu übergeben. Aufgrund der nationalsozialistischen Ausrichtung der Marburger Romanistik nach Auerbachs Flucht verzichtete Hellweg auf eine Universitätskarriere und arbeitete als Oberschullehrer. Im September wurde er infolge des deutschen Angriffs auf Polen zur Wehrmacht einberufen und 1941 aufgrund seiner Russischkenntnisse in eine Nachrichteneinheit an die Ostfront versetzt. 1945 kehrte Hellweg nach kurzer englischer Kriegsgefangenschaft wieder nach Fulda zurück, wo er seine Lehrtätigkeit am Gymnasium wieder aufnahm. Erst in den frühen 1970er Jahren war es ihm vergönnt, an seine frühere Universitätskarriere an der Universität Freiburg i. Br. anzuknüpfen, wo er Methodik und Didaktik des neusprachlichen Unterrichts sowie Anglistik unterrichtete.
Briefe und Anmerkungen aus Martin Vialon (Hrsg.), Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939–1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar. Basel: Francke, 1997. S. 69–76.