Wenige Wochen nach unserer Ankunft im Lager … wurde Frankreich besiegt, und alle Verbindungen brachen zusammen. In dem daraus resultierenden Chaos gelang es uns, Befreiungspapiere zu beschaffen, mit denen wir das Lager verlassen konnten. Zu dieser Zeit gab es keinen französischen Untergrund (die französische Widerstandsbewegung entstand erst viel später, nämlich als die Deutschen beschlossen, Franzosen zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu holen, woraufhin viele junge Leute untertauchten und dann den Maquis bildeten). Niemand von uns konnte „beschreiben“, was auf die Zurückgebliebenen zukam. Alles, was wir tun konnten, war, ihnen zu sagen, was wir erwarteten – das Lager würde an die siegreichen Deutschen übergeben werden. Dies geschah tatsächlich, aber da das Lager im späteren Vichy-Frankreich lag, geschah es Jahre später, als wir erwartet hatten. Die Verzögerung hat den Häftlingen nicht geholfen. Nach einigen Tagen des Chaos wurde alles wieder sehr regelmäßig, und eine Flucht war fast unmöglich. Wir haben diese Rückkehr zur Normalität zu Recht vorhergesagt. Es war eine einmalige Chance, aber sie bedeutete, dass man mit nichts als einer Zahnbürste abreisen musste, da es kein Transportmittel gab.
Hannah Arendt (1906-1975) war eine jüdische, deutsch-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Nachdem sie 1933 mehrere Tage von der Gestapo inhaftiert wurde, floh sie nach Frankreich und arbeitete dort u.a. in zionistischen Organisationen, die Jüdinnen und Juden zur Flucht verhalfen. 1937 wurde ihr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen, was sie für fast 14 Jahre zur Staatenlosen machte. Nachdem sie einige Wochen im französischen Internierungslager Gurs gefangen war, gelang ihr auch von dort die Flucht. In diesem Exzerpt beschreibt sie die genauen Umstände der Flucht aus Gurs und wie wichtig es war, die extrem begrenzten Möglichkeiten zu entfliehen, vorausschauend zu nutzen.
1941 kam Arendt in die USA, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte und ihr im Jahr 1951 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zuerkannt wurde. In ihren ersten Jahren in New York arbeitete sie als Publizistin, Lektorin und Mitarbeiterin mehrerer jüdischer Zeitschriften (u.a. „Der Aufbau“) und Organisationen (u.a. Commission on Jewish Cultural Reconstruction). Unter dem Eindruck der Flucht- und Ankommenserfahrung, die sie und andere europäische Jüdinnen und Juden gemacht hatten, verfasste sie 1943 auch den Essay „We Refugees“ im Menorah Journal.
Von 1953 bis 1967 lehrte Arendt als Professorin am Brooklyn College in New York, an der University of Chicago und an der New School for Social Research in New York.
Auszug aus einem Brief an das Midstream Magazine, 1962.
Zitiert in: Young-Bruehl, Elisabeth, 1982: Hannah Arendt. For Love of the World, New Haven and London. S. 155.