Mendel Balberyszski über die Ankunft in Vilnius 1939
Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź. Nach einer fast einmonatigen Flucht durch Polen und über ukrainische Dörfer kam er am 29. September 1939 über den Fußweg in seiner Heimatstadt Vilnius an.
Freitagnacht sind wir in Vilnius angekommen. Da es nach der Sperrstunde war, mussten wir die ganze Nacht im Wartesaal der ersten Klasse sitzen. Der ganze Bahnhof war voll von Menschen. Einen Sitzplatz zu bekommen, war keine leichte Sache.
Erst am nächsten Morgen hat man uns aus dem Bahnhof rausgelassen. Am Shabbat, den 30. September 1939, bin ich zu Hause angekommen, bei meiner Mutter und Schwester, auf der Breiten Straße 50 (ehemals der Nevsky Prospekt, gegenüber vom russischen Theater).
Welch Überraschung zu Hause, welch herzzerreißendes Weinen, als ob sie einen Menschen aus dem Totenreich vor sich hätten.
Erst dann habe ich erfahren, was man alles über mich erzählt hat – dass ich mit dem Anwalt Josef Veytsman ins Ausland bin. Eine zweite Version meinte, dass ich mit dem Konsul Max Kohn, dem Sohn von dem Obmann Oskar Kohn – Eigentümer der „Vidzever Manufaktur“ –, nach England abgehauen bin, andere wiederum hatten mich angeblich an der rumänischen Grenze gesehen.
Nach einer Pause von 14 Jahren, die ich in Łódź verbracht hatte, bin ich zurück nach Vilnius gekommen, in meine alte Heimatstadt, wo ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe, meine Kindheit, meine Jugendjahre, ich bin hier zur Schule gegangen und habe studiert, habe hier meine Hochzeit gefeiert und mit meiner aktivistischen Arbeit angefangen.
Das Herz hat geschmerzt, wenn man sich die Zerstörung ansah, das Unglück, in welches wir innerhalb von einem einzigen Monat hineingeworfen worden sind…
Mein Ankommen in Vilnius war das zweite Wunder, was mir und meiner Familie in dieser schrecklichen Zeit widerfahren ist.
Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź, Polen. In der Zwischenkriegszeit war er Herausgeber der jiddischen Zeitung Der Tog (Der Tag) in seiner Heimatstadt Vilnius. Er verließ Vilnius und wurde Mitglied der polnisch-jüdischen Folkspartey (Volkspartei), um für kulturelle Autonomie der polnischen Judenheit zu streiten. 1925 gründete Balberyszski in Łódź den Verbund jüdischer Handwerker und Kleinunternehmer und wurde der Präsident der größten jüdischen Hilfsorganisation Noten Lekhem (Brotgeber). 1939 führte er die Polnische Demokratische Partei an, einer der drei wichtigsten politischen Parteien im Polen der Zwischenkriegszeit. In den ersten Septembertagen 1939 entschloss er sich vor der deutschen Wehrmacht nach Vilnius zu fliehen, wo er am 29. September erleichtert ankam.
Balberyszski überlebte die „Liquidierung“ des kleinen und großen Ghettos in Vilnius und erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in einem Konzentrationslager in Estland. Nach Kriegsende emigrierte er nach Australien und engagierte sich weiter aktiv in jüdischer Gemeindearbeit. Er gründete die Gesellschaft von Partisanen und Lagerüberlebenden, von der er der Präsident wurde. Seine Erinnerungen, darunter auch dieser Text, wurden 1967 unter dem Titel Shtarker fun ayzn: Iberlebungen in der Hitler-tkufe („Stärker als Eisen: Überleben in der Hitlerzeit“) veröffentlicht.
Exzerpt:
Mendel Balberyszski, 1967: Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe, Band 1. Tel Aviv: HaMenorah, 1967, S. 69–70.