Mendel Balberyszski über die schwierige Entscheidung der Weiterflucht
Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź. Nach einer fast einmonatigen Flucht durch Polen und über ukrainische Dörfer kam er am 29. September 1939 über den Fußweg in seiner Heimatstadt Vilnius an. Als Geflüchteter/Heimkehrer hatte Balberyszski einzigartige Einblicke in die Geflüchtetengemeinschaft als eine Art Insider/Outsider und erfuhr verschiedene Begründungen für oder gegen eine Weiterflucht, insbesondere als die Ausreise unter der sowjetischen Besatzung und der späteren Annexion von Litauen im Sommer 1940 für viele eine Möglichkeit wurde.
איצט, װוּהין זאָל איך פֿאָרן? קײן אַמעריקע? און זײַן פֿאַראורטײלט „נאַ כליעב לאַסקאַװי“ (אויף חסד־ברויט) פֿון אַב. קאַהאַן און אַנדערע. איך בין געװען אין אַמעריקע און װײס, װי ס’זעט דאָרט אויס דאָס ייִדישע לעבן. ס’איז ניט קײן אָרט פֿאַר מיר“.
Eine ganze Reihe von Geflüchteten haben gar nichts gemacht und nur nach Wegen gesucht, irgendwie weiterfliehen zu können. Pässe haben alle bekommen. Das Visaproblem hat man auch schnell gelöst: Auf vielen Straßen von Vilnius hatten sich neue „Konsule“ eingerichtet, die in der Regel Visen für alle Länder der Welt gegen eine kleine Gebühr ausgaben. Auch haben fast alle Botschafter in Kovno gern Ausreisevisen ausgestellt … Viele Geflüchtete sind sogar, in dieser Zeit, von Vilnius über Vladivostok nach Japan entkommen; über Odessa nach Palästina etc. Die Geflüchteten haben alles verkauft, nur um die nötige Geldsumme in gültigen Dollars zusammenzubekommen, um die Reisekosten bezahlen zu können. Insbesondere der Joint hat hier sehr geholfen sowie verschiedene andere jüdische politische Organisationen.
Merkwürdige Szenen haben sich in der sowjetischen Botschaft abgespielt. Sie verlangten für die Transitvisen und Reisetickets nach Vladivostok in der Regel nur gültige Dollar. Auf die Erwiderung, dass es vorboten sei, mit Währungen zu handeln und dass die Staatsbank keine Währungen verkauft, rieten sie, sie auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, oder im Cafe „Monika“, und versicherten dabei, dass niemanden etwas Schlechtes geschehen würde. […]
In jener Zeit waren auch Massen an falschen Visen im Umlauf. Die sowjetische Botschaft wusste das sehr gut. An einem Morgen, als man die Botschaft öffnete und der Wartesaal sich direkt mit Juden füllte, kam der Beamte raus und sagte: „Bürger, heute geben wir Visen nur an diejenigen, die richtige Endzielvisen haben. Die anderen sollen morgen kommen…“ Innerhalb einer Minute war der Saal leer.
Viele konnten nicht weiterfahren, unter ihnen der ehemalige Sejm-Vertreter Leybl Mintsberg, 11Sejm ist die Bezeichnung für eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung. der orthodoxer Senator Trokenheym, der Bundist Herman Kruk etc. Als wir in einem Konzentrationslager in Estland waren, 22Das Konzentrationslager Klooga, in dem auch Herman Kruk war und im September 1944 kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee ermordet wurde. zeigte mir Kruk, dass er ein Täschchen mit ausländischen Dokumenten bei sich trug, die letztlich zusammen mit ihm verbrannt wurden. […]
Noyekh 33Noyekh Prilutski (1882-1942). Für biographische Details siehe Weiser, Kalman: Pryłucki, Noah in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Pry%C5%82ucki_Noah (25.9.2019). war ein unverbesserlicher Optimist. Sein Optimismus war letztlich sein Unglück. In der Zeit, als die meisten Geflüchteten, insbesondere jüdische Schriftsteller, sich mit allen Kräften um Pässe und Ausreisevisen bemühten, wollte Noyekh davon nichts hören. Er war richtig verzaubert von der Macht der Sowjetunion und den neuaufkommenden Möglichkeiten. „In keinem anderen Land auf der Welt werde ich solche Möglichkeiten für meine wissenschaftliche Arbeit haben, wie in der Sowjetunion,“ war seine Meinung. Er hatte sich eine schöne Wohnung eingerichtet, mit den nötigen Möbeln und vor allem mit Büchern, Büchern ohne Ende von der Universitätsbibliothek von Vilnius und aus der Sowjetunion.
In diesen Tagen habe ich oft mit Noyekh über eine Weiterflucht geredet, für die sich nun viele Geflüchtete entschieden. Natürlich hatten wir auch Angst vor möglichen Repressalien aufgrund unserer ehemaligen Tätigkeit in Polen. Doch darauf hat Noyekh immer geantwortet: „Gegen die Bundisten wenden die Bolschewisten Repressalien an, weil schon Lenin und Stalin den „Bund“ als konterrevolutionäre, menschewistische Bewegung 44Als Menschewiki bezeichnete man Anhänger*innen eines Sozialismus, der auf der Revolution und Herrschaft der Massen beruhte, und nicht auf einer Kaderpartei. Damit standen sie im Gegensatz zu den Bolschewiki um Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) und wurden als solche nach der Oktoberrevolution verfolgt. bekämpft haben. Jahrzehnte schon ist der „Bund“ für sie gefährlich, da sie unter Arbeiter arbeiten und wirken und im Namen des Sozialismus sprechen. Der Zionismus wiederum wird durch sie als reaktionäre, pro-englische Bewegung bekämpft. Dagegen waren wir, die Folkisten, 55Bezeichnung für die Mitglieder der polnisch-jüdischen Folkspartey. eine bürgerliche Partei, die kaum etwas mit Arbeitern und Sozialismus zu tun hatte. Ganz im Gegenteil waren wir zuletzt die einzige jüdische bürgerliche Partei, die sich in der Volksfront mit den Kommunisten verbunden hat. Es kann und wird keine Repressalien gegen uns geben. Das ist das Eine.
Und überhaupt, wohin soll ich denn jetzt fliehen? Nach Amerika? Und dort zum Bittsteller bei Ab Cahan 66Abraham Cahan (1860-1951), Gründer und Herausgeber der jiddischen Zeitschrift Forverts/The Forward (Vorwärts), die zu den bedeutendsten jiddisch-sprachigen Zeitschriften in den USA gehörten. und anderen verurteilt sein. Ich bin in Amerika gewesen und weiß, wie das jiddische Leben dort aussieht. Das ist kein Ort für mich.“
Fußnoten
1Sejm ist die Bezeichnung für eine der beiden Kammern der polnischen Nationalversammlung.
2Das Konzentrationslager Klooga, in dem auch Herman Kruk war und im September 1944 kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee ermordet wurde.
3Noyekh Prilutski (1882-1942). Für biographische Details siehe Weiser, Kalman: Pryłucki, Noah in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, https://yivoencyclopedia.org/article.aspx/Pry%C5%82ucki_Noah (25.9.2019).
4Als Menschewiki bezeichnete man Anhänger*innen eines Sozialismus, der auf der Revolution und Herrschaft der Massen beruhte, und nicht auf einer Kaderpartei. Damit standen sie im Gegensatz zu den Bolschewiki um Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin) und wurden als solche nach der Oktoberrevolution verfolgt.
5Bezeichnung für die Mitglieder der polnisch-jüdischen Folkspartey.
6Abraham Cahan (1860-1951), Gründer und Herausgeber der jiddischen Zeitschrift Forverts/The Forward (Vorwärts), die zu den bedeutendsten jiddisch-sprachigen Zeitschriften in den USA gehörten.
In der Zwischenkriegszeit war Balberyszski Herausgeber der jiddischen Zeitung Der Tog (Der Tag) in seiner Heimatstadt Vilnius. Er verließ Vilnius und wurde Mitglied der polnisch-jüdischen Folkspartey (Volkspartei), um für kulturelle Autonomie der polnischen Judenheit zu streiten. 1925 gründete Balberyszski in Łódź den Verbund jüdischer Handwerker und Kleinunternehmer und wurde der Präsident der größten jüdischen Hilfsorganisation Noten Lekhem (Brotgeber). 1939 führte er die Polnische Demokratische Partei an, einer der drei wichtigsten politischen Parteien im Polen der Zwischenkriegszeit.
In den ersten Septembertagen 1939 entschloss er sich vor der deutschen Wehrmacht nach Vilnius zu fliehen, wo er am 29. September erleichtert ankam. Er traf hier zufällig auf eine ganze Geflüchtetengemeinschaft, die aus alten Freunden und neuen Gesichtern bestand und in den meisten Fällen versuchte, Vilnius als Transitstation auf der Weiterflucht zu nutzen, während andere Vilnius zu ihrem neuen Zuhause machen wollten. Die Visabeschaffung war nicht immer einfach, allerdings bot insbesondere die neue sowjetische Herrschaft Litauens in Sommer 1940 in dieser Beziehung neue Möglichkeiten. Und obwohl die meisten nicht unter sowjetischer Herrschaft leben wollten, gab es einige, die ihr auch Gutes abgewinnen konnten und insbesondere in der staatlichen Förderung des jiddischen Kulturlebens hier eine Zukunft sahen. Die Entscheidung zur Weiterflucht oder zum Verbleib in Vilnius war demnach von Person zu Person unterschiedlich, wie Balberyszski in seinen Gesprächen herausfand, und war abhängig von politischen Beweggründen, Identitäten vor der Flucht und individuelle Zukunftsvisionen.
Nach der deutschen Besatzung Litauens, überlebte Balberyszski die „Liquidierung“ des kleinen und großen Ghettos in Vilnius und erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in einem Konzentrationslager in Estland. Nach Kriegsende emigrierte er nach Australien und engagierte sich weiter aktiv in jüdischer Gemeindearbeit. Er gründete die Gesellschaft von Partisanen und Lagerüberlebenden, von der er der Präsident wurde. Seine Erinnerungen, darunter auch dieser Text, wurden 1967 unter dem Titel Shtarker fun ayzn: Iberlebungen in der Hitler-tkufe („Stärker als Eisen: Überleben in der Hitlerzeit“) veröffentlicht.
Exzerpt:
Balberyszski, Mendel, 1967: Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe, Band 1. Tel Aviv: HaMenorah, S. 97–98, 105.