Mendel Balberyszski über seine Hilfstätigkeit in Vilnius
Mendel Balberyszski (1894–1966) stammte gebürtig aus Vilnius, lebte bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jedoch schon seit über einem Jahrzehnt in Łódź. Nach einer fast einmonatigen Flucht durch Polen und über ukrainische Dörfer kam er am 29. September 1939 über den Fußweg in seiner Heimatstadt Vilnius an. Als Geflüchteter/Heimkehrer wurde Balberyszski selbst direkt aktiv in der lokalen Hilfstätigkeit für Geflüchtete in Vilnius.
Die Litauer fingen mit der Verwaltung an. Die Stadt war damals wie ausgehungert, so dass sie direkt einen stabilen Zufluss von Lebensmitteln aus Litauen organisierten. Fleisch, Butter, Weißmehl, Milch, Eier und dergleichen zeigten sich in der Stadt, in der ersten Zeit wurden die Produkte jedoch nur in begrenzter Zahl ausgeteilt. […]
In dieser Zeit (Ende Oktober – Anfang September) habe ich mich in Vilnius mit dem Direktor des Joint in Polen Prof. Giterman getroffen. Da ich in Vilnius Zuhause war, habe ich viel dabei geholfen, Hilfe für Geflüchtete zu organisieren, sie mit Wintermänteln zu versorgen, weil alle nach Vilnius ja mit Sommermänteln gerannt sind. In dieser Zeit kamen in Vilnius meine Freunde an – Noyekh Prilutski, Lazar Kahan, Shushne und andere. Viele meiner alten Freunde bekamen Hilfe bei mir Zuhause.
In jenem Jahr herrschte ein früher und schwerer Winter, die Kälte war schrecklich. Wir haben viele Geflüchtete mit warmen Anziehsachen und Unterwäsche versorgt.
Viele andere Geflüchtete bekamen vom Joint Stoff. Man hat ihnen also, für einen geringen Preis, bei uns ein Kleidungsstück genäht. Noyekh Prilutski war ein bisschen krank um die Nieren, Lazar Kahan auch – also kamen sie fast tag-täglich zu mir für einen Tee mit Konfitüre. Der Großteil jüdischer Schriftsteller und politischer Aktivisten wohnten in dem Wohnheim in der Sadowa Straße 4; andere mieteten Zimmer, oder sie wurden einfach so in Privathäuser eingeladen. N. Prilutski hat beispielsweise bei dem bekannten Philantropen D. Kaplan-Kaplanski. Viele Geflüchtete begannen zu handeln, um einen Bissen Brot selbst zu verdienen und nicht auf ander Leuts Tisch angewiesen zu sein.
In der Zwischenkriegszeit war Balberyszski Herausgeber der jiddischen Zeitung Der Tog (Der Tag) in seiner Heimatstadt Vilnius. Er verließ Vilnius und wurde Mitglied der polnisch-jüdischen Folkspartey, um für kulturelle Autonomie der polnischen Judenheit zu streiten. 1925 gründete Balberyszski in Łódź den Verbund jüdischer Handwerker und Kleinunternehmer und wurde der Präsident der größten jüdischen Hilfsorganisation Noten Lekhem. 1939 führte er die Polnische Demokratische Partei an, einer der drei wichtigsten politischen Parteien im Polen der Zwischenkriegszeit.
In den ersten Septembertagen 1939 entschloss er sich vor der deutschen Wehrmacht nach Vilnius zu fliehen, wo er am 29. September erleichtert ankam. Hier übernahm er direkt verschiedene Hilfstätigkeiten für Geflüchtete, für die Vilnius im Gegensatz zu ihm nicht Heimatstadt war und die auf anderer Unterstützung angewiesen waren. Balberyszski ist also ein interessanter Fall eines Geflüchteten, der zufällig in seiner Heimatstadt ankam, so die Strukturen kannte und sie für die nötige Hilfstätigkeit nutzen konnte und wollte.
Er überlebte die „Liquidierung“ des kleinen und großen Ghettos in Vilnius und erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in einem Konzentrationslager in Estland. Nach Kriegsende emigrierte er nach Australien und engagierte sich weiter aktiv in jüdischer Gemeindearbeit. Er gründete die Gesellschaft von Partisanen und Lagerüberlebenden, von der er der Präsident wurde. Seine Erinnerungen, darunter auch dieser Text, wurden 1967 unter dem Titel Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe veröffentlicht.
Exzerpt:
Mendel Balberyszski, Shtarker fun ayzn : Iberlebungen in der Hitler-tkufe, Band 1 (Tel Aviv: HaMenorah, 1967), S. 75–77.