Pinkhas Shvarts über Bombardierungen auf der Flucht
In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939, nur wenige Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen, entschied sich eine Gruppe jüdischer Journalisten und Schriftsteller auf Geheiß der polnischen Regierung Warschau in Richtung Osten mit dem Zug zu verlassen, um dem deutschen Vormarsch zu entkommen. Pinkhas Shvarts (1902–1963) war einer unter ihnen und erzählt von der ständigen Gefahr deutscher Bombardements auf der Flucht.
Um ungefähr 11 Uhr hielt der Zug bei einem kleinen Häuschen eines Bahnschaffners. In der Ferne konnte man 2-3 Fabrikschornsteine und einen großen Bahnhof sehen.
– Das ist Łuków! – erklärte uns der Schaffner – Ich habe Befehl, die Züge anzuhalten, weil der Łukówer Bahnhof kürzlich bombardiert worden ist.
[…] Inzwischen hatten wir aber andere vordringlichere Sorgen: Über unserem Zug zeigten sich Flugzeuge!
[…] Im Zug entstand ein angstvoller Tumult. Es wiederholte sich das, was unter ähnlichen Umständen schon vorher auf dem Danziger Bahnhof in Warschau zu Beginn unserer Fahrt geschehen war: Einige sprangen aus dem Zug und liefen in den Wald, andere sprangen aus dem Zug und blieben im Gras neben den Schienen liegen, und wieder andere blieben im Zug.
Das Flugzeug machte derweil einen Aufklärungsflug über unserer Bahn und über der Bahn aus Pommern hinter uns. Dann ist es in Richtung des Bahnhofs weggeflogen.
Aber es dauerte keine fünf Minuten – die Menschenmasse war gerade zum Zug zusammengelaufen – als dasselbe Flugzeug sich das zweite Mal in Begleitung von noch zwei weiteren zeigte.
[…] Auch diese drei Flugzeuge kreisten über unserem Zug und flogen davon, ohne Bomben abzuwerfen. Wir saßen im Wald und in den Gruben und warteten mit Herzklopfen auf die erste Detonation. Es vergingen aber nur einige Minuten […] als man anfing, uns zuzurufen, dass wir rauskommen könnten, weil die Gefahr vorüber sei.
Aber nach Łuków einzufahren, das lehnten die Zugführer ab:
[…] Es wird besser sein, wenn ihr zu Fuß in die Stadt geht und wir uns in einigen Stunden auf dem Bahnhof treffen, um weiterzufahren.
[…] Der Teufel wollte, dass genau in dem Moment, als wir in der Stadt angekommen waren, eine neue Bombardierung anfing.
Es war gefährlich, in der Nähe des Bahnhofs zu bleiben. Wir fingen an, zu den Häusern in der nächsten Straße zu rennen. […] Endlich hatten wir das Glück, einen lebendigen Menschen zu treffen – irgendein christliches Mädchen stand vor einem verbarrikadierten Geschäft und guckte uns neugierig an. […] Sie öffnete die Tür des Geschäfts. Drinnen war ein Geschäft mit Essen etc. Im Laden haben sich um die 10 Mann unseres Zuges hineingedrängt – Christen und Juden. […] Es stellte sich heraus, dass wir hier bekommen konnten, was wir wollten: Brot, Butter, Eier, Wurst.
[…] Es war ein prächtiger Tag. Die Flugzeuge sind irgendwohin verschwunden. […] Später lagen wir mit dem Gesicht zum Himmel und glotzten in den blauen Himmel und wollten alles vergessen, was bis jetzt geschehen war und was noch so alles innerhalb der nächsten Stunde passieren könnte: Die Welt ist so schön, so schön!
[…] Es war so ein Moment, in dem ich dachte: Vielleicht steh ich einfach nicht auf? Vielleicht fahre ich einfach nicht weiter?
Ich stand natürlich trotzdem auf und bin weitergefahren. Alle rafften sich auf, um weiterzufahren.
[…] Es war ca. 15 Uhr, als wir zum zerstörten Bahnhof von Łuków zurückgekommen sind und unsere Waggons suchten. […] Am Zug erfuhren wir, dass “wir Glück gehabt haben”. Der Zug mit den Geflüchteten, der hinter unserem Zug gefahren ist, wurde von einer Bombe getroffen, und es gab Tote.
Pinkhas Shvarts 11Herts, Y. Sh. (ed.), 1956–1968: Doyres Bundistn, Vol. 3. New York, S. 116–122; Schulz, Miriam, 2016. Der Beginn des Untergangs. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees. Berlin: Metropol. http://metropol-verlag.de/produkt/miriam-schulz-der-beginn-des-untergangs/, S. 93. war Mitglied des Bund, Schriftsteller und Korrespondent der jiddischen Folks-tsaytung (Volkszeitung) in Warschau und Bruder des berühmten Chronisten des Holocaust in Litauen, Herman Kruk. 22Für biographische Details siehe Kruk, Herman, 2002. The Last Days of the Jerusalem of Lithuania: Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944. New Haven: Yale University Press. Er war einer von wenigen polnisch-jüdischen Schriftstellern, die einen Sitzplatz im sogenannten Journalistenzug ergattern konnten, der in der Nacht vom 5. auf den 6. September 1939 Warschau vorerst in Richtung Lublin verließ, um dem deutschen Einmarsch zu entgehen. Ein Zwischenstopp war Łuków. Er erzählt von der ständigen Gefahr deutscher Bombardierungen.
Die Journalisten erreichten am 10. Oktober 1939 nach einer langen, gefährlichen und erratischen Fahrt mit dem Journalistenzug Vilnius. Hier angekommen, zögerten die exilierten jüdischen Geflüchteten nicht lange. Im November 1939 gründete eine Gruppe geflüchteter Schriftsteller- und Journalistenkollegen das Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939. Es war die wohl früheste jüdische historische Kommission in Osteuropa, die im Schatten der deutschen Verbrechen im Geheimen begann, die Zerstörung des polnischen Judentums seit September 1939 zu dokumentieren. Pinkhas Shvarts überlebte die Shoah, indem er über Vilnius in Richtung New York entkam, und wurde 1957 Führungsmitglied des World Coodinating Committee des Bund.
Fußnoten
1Herts, Y. Sh. (ed.), 1956–1968: Doyres Bundistn, Vol. 3. New York, S. 116–122; Schulz, Miriam, 2016. Der Beginn des Untergangs. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees. Berlin: Metropol. http://metropol-verlag.de/produkt/miriam-schulz-der-beginn-des-untergangs/, S. 93.
2Für biographische Details siehe Kruk, Herman, 2002. The Last Days of the Jerusalem of Lithuania: Chronicles from the Vilna Ghetto and the Camps, 1939–1944. New Haven: Yale University Press.
Exzerpt:
Pinkhas Shvarts, 1943: Dos iz geven der onheyb, New York: Farlag „Arbeter-ring“, Kapitel 3: In bombardirtn Lukov.