„Erschöpft, frierend und nur halb lebendig.“ – Das Suwałker Niemandsland

Michal Frankl, Masaryk Institute and Archives of the Czech Academy of Sciences

 

Ende der 1930er Jahre symbolisierte das Aufkommen sogenannter „Niemandsländer“ die desolate Lage jüdischer Flüchtender aus Ländern unter deutscher Herrschaft. An vielen unsicheren Grenzen in Mittel- und Osteuropa machten sie die Staatenlosigkeit der Flüchtenden sowie die Souveränitätserosion der Nationalstaaten deutlich. Dieser Beitrag zeichnet das Schicksal einer wenig bekannten Geflüchtetengruppe nach, die (vermehrt auf dem Weg nach Vilnius) in einem Landstreifen zwischen dem deutsch-besetzten Polen und dem noch unabhängigen Litauen gefangen waren. Die Geschichte des „Niemandslands“ ermöglicht einen neuen Blick auf heutige Geflüchtetenräume, in denen Geflüchteten oft Schutz und Rechte versagt werden.

Auf Inspektion des Niemandslands

„Ein kalter, regnerischer Novembertag. Es wehte ein scharfer, stechender Wind. Ein schwarzes Feld hatte sich dank der Herbstregen in eine Marschlandschaft verwandelt. Figuren erheben sich wie aus der Erde heraus… Wut, Rufe, Geschrei: ‚Helft uns‘. Schreckliche Gesichter, geschwollen von Wind und Kälte… Wahnsinnige Blicke… Die Schreie nehmen kein Ende.“ 11Memorandum – “Nobody’s Land”, 10. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.

Dieses Bild schockte selbst den anderweitig erfahrenen Arzt der jüdischen Hilfsorganisation OZE. Am 5. November 1939 untersuchte er zusammen mit einer Gruppe von humanitären Helfern und einem Journalisten die Geflüchteten, die an der Grenze zwischen dem deutsch-besetzten Polen und dem noch unabhängigen Litauen nahe der Stadt Suwałki festsaßen.

Sie fanden eine Gruppe von zwei Kindern, vierzehn Frauen und fünfzehn Männern vor, die auf einem schlammigen Feld schutzlos den Elementen ausgesetzt war. Eine Woche zuvor war die Gruppe von der neuen deutschen Macht in Wiżajny (lit. Vižainis) vertrieben worden. Eine circa achtzehnjährige Frau erzählte den Besuchern, dass den Jüdinnen*Juden der Stadt befohlen wurde, sich auf dem Hauptplatz zu versammeln und all ihr Geld und Wertsachen sowie die Schuhe und Mäntel, die sie trugen, abzugeben. Unzureichend angezogen machten sich 281 Menschen zur litauischen Grenze auf. Sie selbst hatte den Weg nur in ihren Kniestrümpfen zurückzulegen, während zwei gelähmte ältere Personen getragen werden mussten. Nach der Tortur dieses Marschs war die Gruppe zwischen den Grenzposten beider Staaten gefangen. 22Memorandum – “Nobody’s Land”, 10. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874; Traurige Bilder aus dem “Niemandsland” (German translation of an article from Lietuvos Žinios, 14. 11. 1939, US Holocaust Memorial Museum, RG 14.108M, Selected records from the Political Archive of the German Ministry of Foreign Affairs (RZ 214, Referat D-Abteilung Inland), R99491, microfiche No 5845.

Eine weitere Augenzeugin, die kurz nach den Ereignissen Zeugnis abgab, beschrieb wie in der Nacht des 27. Oktobers, einer Shabbatnacht von Freitag auf Samstag, jüdische Häuser von mit Peitschen und Pistolen bewaffneten Deutschen geplündert und die jüdischen Bewohner vertrieben wurden. Die Zeugin packte in Eile zwei Wolldecken in einen Sack und floh mit ihrer Tochter. Doch direkt außerhalb der Stadt wurden die flüchtenden Jüdinnen*Juden festgehalten und (zusammen mit Kranken, die auf Wägen ankamen) zur Grenze gebracht. Deutsche Wachen konfiszierten die letzten Wertsachen und schickten die Flüchtenden auf die litauische Grenzseite. Es existiere eine Abmachung zur Aufnahme mit der litauischen Regierung, wurde den erschrockenen Flüchtenden versichert. In Wirklichkeit waren sie zwischen litauischen Grenzposten, die ihnen die Einreise verwehrten, und deutschen Truppen, die sie wiederholt über die Grenzen zu drängen versuchten, gefangen.

„Dies passierte während der Nacht und es regnete und war finster. Frauen und Kinder weinten bitterlich, aber vergeblich. Wir mussten zwischen den beiden Grenzen im Niemandsland bleiben.“ 33Undatiert and anonymous testimony (first page missing), JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.

Die Geflüchteten waren gezwungen, sich auf offenem Feld einzurichten, im Regen und bei Minusgraden. Sie schliefen auf einem schlammigen und nassen Feld; in den ersten Tagen hinderten sie deutsche Soldaten am Bauen an wenigstens rudimentären Konstruktionen, die sie vor Wind, Regen und Kälte schützen sollten. Erst später wurde ihnen erlaubt, provisorische Schutzdächer aus Schilf, Stoff, Papier und allem anderen, was sie auf dem Feld finden konnten, zu errichten. Einige Frauen und Kinder fanden Unterschlupf in den Hütten lokaler Bauern. Eine gewisse Zeit hinderten die Soldaten die Bauern sogar daran, den Geflüchteten mit dem wenigen Essen, das sie teilen konnten, zu helfen. Nach einigen Tagen schafften es jedoch einige litauische jüdische Gemeinden, ihnen im Geheimen zu Hilfe zu kommen und sie mit Essen und anderen lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Deutsche Soldaten plünderten und erniedrigten die Gruppe täglich weiter (formell lag das Niemandsland auf dem Gebiet des besetzten Polens) auf der ständigen Suche nach versteckten Wertsachen. Eine junge Frau in den Dreißigern starb über Nacht aufgrund von Kälte und Hunger und die Gruppe von Hilfsarbeitern fand ihren mit Ästen bedeckten Körper auf dem Feld.

 

Laut Moses Beckelman, dem Abgesandten des American Jewish Joint Distribution Comittees (Joint) in Litauen, waren die meisten Geflüchteten, die sie auf dem Feld vorfanden, „nicht in der Lage kohärent zu sprechen, sie schrien unaufhörlich zu uns und riefen, man solle sie von dort wegbringen“. Beckelman gelang es, einige Fotos aufzunehmen, die die den Elementen ausgesetzte Geflüchtetengruppe zeigen. (Die besser angezogenen Männer mit Hüten waren Delegierte des Besuchskomitees.) Aufgrund der Einwände eines litauischen Kommandanten konnte er sie nur von der Seite und von einer gewissen Distanz fotografieren. Doch selbst diese mangelhaften Fotografien halten eindrucksvoll die hoffnungslose Lage der Geflüchteten fest. Nach einem kurzen Aufenthalt (ein längerer wurde von einem litauischen Grenzsoldat nicht erlaubt) verteilten die Besucher Essen und Zigaretten und machten sich auf den Weg zurück nach Kaunas… 44Beckelman, Moses: Memorandum re expulsions over the Lithuanian German border, 8. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.

Unsichere Grenzen

Das Niemandsland bei Suwałki, das von der Kommission besichtigt wurde, war nicht einmalig – ganz im Gegenteil: Es kennzeichnete die Radikalisierung der anti-jüdischen Politik, von Vertreibungen und der Aushöhlung jüdischer Staatsbürgerschaft in Mittel- und Osteuropa. Diese Parallelen waren auch Zeitzeugen klar: Beckelman beschrieb die Vertreibungen aus Suwałki als die „jüngsten ‚Zbaszyn‘ Deportationen“ 55Beckelman, Moses: Memorandum re expulsions over the Lithuanian German border, 8. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874. und assoziierte sie so mit den Deportationen von bis zu zwanzigtausend Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit, die ein Jahr zuvor noch in Deutschland lebten. Viele von ihnen waren im Niemandsland nahe der Grenzstadt Zbąszyń (dt. Bentschen) gefangen. Kleinere und größere Geflüchtetengruppen verweilten auch an den Grenzen nach dem Anschluss Österreichs, dem Münchner Abkommen und nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch (die zu Grenzrevisionen führten, laut denen die Tschechoslowakei gezwungen wurde, Territorium an das nationalsozialistische Deutschland und Ungarn abzutreten).

Nicht nur die Brutalität der Deutschen, sondern das Phänomen der Niemandsländer an sich schockierte diejenigen, die in ihnen gefangen waren, sowie Beobachter, die versuchten, diese seltsamen Räume zu verstehen. Die Bilder der öden Frontlandschaften des Ersten Weltkrieges heraufbeschwörend, zeichnete der Begriff Niemandsland eine Parallele zu der Situation von Soldaten zwischen den Fronten. Trotz des häufigen Vergleichs zu Flüchtlingslagern und der Benennung als solche unterschieden sich die Feldlager in Niemandsländern von diesen erwarteten Geflüchtetenräumen. Im Gegensatz zu ihnen war das Niemandsland ein staatenloser Raum, in dem ein Nationalstaat weder seine Staatshoheit ausübte noch Rechtsstaatlichkeit durchsetzte. Ungeachtet der fluiden Natur dieser Grenzen und willkürlicher Razzien übernahm kein Staat oder andere Institution die Verantwortung für die Rechtsdurchsetzung innerhalb des Niemandslands oder für die Ordnung der Zeit und Räume der Geflüchteten; der Staat zeichnete eine künstliche Grenze um solche Gruppen, und seine Machtausübung war im Allgemeinen auf den Schutz dieser Perimeter beschränkt. Als Raum für die, die keinen Schutz als Bürger oder Geflüchtete hatten, verkörperte das Niemandsland die Staatenlosigkeit von Juden und machte sie sichtbar. Improvisierten Niemandsländer, wie das in der Nähe Suwałkis, mangelte es nicht nur an baulichen Anlagen, die gemeinhin mit Zivilisation assoziiert werden, wie beispielswiese ein Straßennetz und Infrastruktur, sondern auch an vorher existierenden sozialen Strukturen und Hierarchien. Die dynamischen sozialen Gruppen zwischen den Grenzen waren auf Außenhilfe, insbesondere von jüdischen Gemeinden und Hilfsorganisationen, angewiesen.

Das häufigere Vorkommen, längere Bestehen und die größere Sichtbarkeit von Niemandsländern in Mittel- und Osteuropa im Vergleich zu den westlichen Grenzen des nationalsozialistischen Deutschlands wurde dank der Multiethnizität und des umkämpften Charakters der Region sowie der unsicheren und sich ändernden Hoheitsgewalten noch verstärkt. Das Territorium, welches oft das Suwałki-Dreieck genannt wird, verkörpert diese Spannungen: als umkämpfte Zone zwischen den Großmächten und Polen in der Zwischenkriegszeit beheimatete es eine facettenreiche Bevölkerung aus polnisch-, litauisch- und jiddisch-sprechenden Menschen sowie eine wichtige jüdische Gemeinschaft. 66Holc, Janine, 2018: The Polish-Lithuanian Borderlands, Past and Present: Multicultural versus Decolonial Responses to Local and State Violence, pp 654–670 in: Nationalities Papers 46(4). Das gleiche gilt für die andere Grenzseite: Vilnius (polnisch Wilno) war mehrheitlich polnisch, gleichzeitig der Mittelpunkt traditioneller jüdischer Gelehrsamkeit und die Wiege der modernen Geschichts- und Kulturwissenschaft des osteuropäischen Judentums.

Die turbulenten Ereignisse des Septembers 1939 unterstrichen die unsichere Lage in der Grenzregion. Auf dem geheimen Zusatzprotokoll des Molotov-Ribbentrop Pakts (des Augusts 1939) fußend, folgte die Sowjetunion der Invasion Polens durch das nationalsozialistische Deutschland und okkupierte Ostpolen, einschließlich des Suwałki-Dreiecks. Anfang Oktober jedoch wurde die Verwaltung aufgrund von Grenzverschiebungen auf Deutschland übertragen. Die Region um Vilnius, die in der Zwischenkriegszeit Teil Polens war, wurde ebenfalls von der Roten Armee besetzt. Doch führten sowjetisch-litauische Verhandlungen dazu, dass im Gegenzug für die Gewährung sowjetischer Militärpräsenz auf litauischem Territorium die Gewalt über die Region auf Litauen übertragen wurde. Die Rote Armee räumte Vilnius am 27. Oktober 1939, genau als die von Deutschland betriebenen Vertreibungen aus der Region um Suwałki begannen. 77Żbikowski, Andrzej, 2017: Poles and Jews in Vilnius Region in 1939-1941, pp 55-65 in: Venclauskas, Linas (ed.): Casablanca of the North: Refugees and Rescuers in Kaunas 1939-1940, Vilnius / Kaunas: Versus aureus / Sugihara Diplomats for Life Foundation, 2017, pp 56. Sofort nach der sowjetischen Räumung der Vilniusregion zettelten ethnisch-polnische Einheimische ein Pogrom an aufgrund von angeblicher Loyalität von Juden zur Sowjetunion und den Anschuldigungen, dass Juden den Brotpreis nach oben trieben. 88Żbikowski, Andrzej, 2017: Poles and Jews in Vilnius Region in 1939-1941, pp 55-65 in: Venclauskas, Linas (ed.): Casablanca of the North: Refugees and Rescuers in Kaunas 1939-1940, Vilnius / Kaunas: Versus aureus / Sugihara Diplomats for Life Foundation, 2017, pp 57.

Den Vertreibungen von Juden durch das nationalsozialistische Deutschland aus Suwałki und Umgebung gingen öffentliche Demütigungen und Konfiszierungen von Eigentum voraus. Durchaus vergleichbar mit den Vertreibungen von Juden aus dem Burgenland direkt nach dem Anschluss Österreichs, wurden auch Juden aus Suwałki, Sejny und anderen Grenzgemeinden zusammengetrieben und unter chaotischen Bedingungen vertrieben. Anfang November registrierten die litauischen Autoritäten 560 Juden aus der Suwałkiregion, die sich in Litauen befanden und behaupteten, dass sie von weiteren 1500 Juden wüssten, die von den Deutschen zu den Grenzen getrieben würden. Gleichzeitig erreichten Berichte über an der litauisch-sowjetischen Grenze festsitzenden Gruppen die litauischen Behörden.

Litauische Diplomaten versuchten wiederholt, in Berlin zu intervenieren, doch nur mit geringem Erfolg. Die deutschen Zuständigen gaben lediglich zu, dass zweihundert Geflüchtete aufgrund eines vermeintlich fälschlichen, von oben unautorisierten Befehls des Bürgermeisters von Sejny vertrieben worden waren – einer Erklärung, die niemand ernst nehmen konnte. Während die Gestapo und das Auswärtige Amt dieser kleinen Gruppe die Rückkehr erlaubte, verweigerten sie dies der Mehrheit. Die Kommunikation zwischen Kazys Škirpa, Litauens Botschafter in Berlin, und den Zuständigen im Auswärtigen Amt grenzte teilweise ans Absurde. Dem Vorschlag von Ernst Woermann, einem hochrangigen deutschen Beamten, Litauen solle sich der ungewollten Geflüchteten auf anderem Wege entledigen (nämlich sie über die sowjetische Grenze drängen), stand die Meinung des litauischen Botschafters gegenüber, Deutschland sollte „seine“ Juden anstelle des kleinen Litauens woanders konzentrieren, wie zum Beispiel in einem Ghetto im Lublin-Gebiet. 99Liekis , Šarūnas, 2017: The Suwalki Triangle. A Window into the Genocidal Future, 83-93 pp 83-93 in: Venclauskas, Linas (ed.): Casablanca of the North: Refugees and Rescuers in Kaunas 1939-1940, Vilnius / Kaunas: Versus aureus / Sugihara Diplomats for Life Foundation, 2017, pp 90.

Dies waren keine leeren Worte: Der Diplomat wusste offenbar von den Deportationen nach Nisko, dem ersten Versuch der Deutschen, die massenweise Umsiedlung von Juden in die okkupierten Gebiete Lublins zu beginnen. In der zweiten Oktoberhälfte 1939 wurden von Adolf Eichmann und seinen Männern mehrere Tausend Juden aus Wien, Moravská Ostrava (Mährisch Ostrau) und Katowice in ein improvisiertes Lager in der Lublin-Gegend deportiert. Man entfernte sich schließlich von diesem Plan, und einigen Deportierten wurde die Rückkehr gestattet, doch die Mehrheit wurde ungefähr zu der Zeit über die sowjetische Grenze gescheucht, als sich die Vertreibungen aus Suwałki abspielten. Anfang Dezember 1939 ordnete die deutsche Verwaltung in der Stadt Suwałki die Vertreibung der einheimischen Juden an, woraufhin viele panisch an die litauische Grenze flohen und dort im Niemandsland umherirrten. 1010Berelson, Yeheskel: The Destruction of Suwalk, in: Kagan, Berl (ed.): Memorial Book of Suvalk, http://www.jewishgen.org/yizkor/Suwalki/suwe049.html (June 22, 2017). Die, die zurückblieben, wurden nach Lublin deportiert. Die Gleichzeitigkeit von Vertreibungen und Deportationen ist wahrlich kein Zufall – sie demonstriert die starke Verbindung zwischen den von Deutschland angetriebenen Vertreibungen, der restriktiven Flüchtlingspolitik anderer Staaten und den ersten Deportationen.

In die Gesetzlosigkeit hinein

Das Niemandsland kam als ungewolltes Resultat des Versuchs von Staaten auf, klare und undurchdringbare Grenzlinien zu ziehen und so Fremde fernzuhalten, während gleichzeitig unzählige Geflüchtete an die Türen klopften. Praktisch führten die geschlossenen Grenzen auch zum Ansteigen der Untergrundaktivitäten, die nicht nur die Grenzen verwischten, sondern Niemandsländer in wilden Zonen der Illegalität verwandelten. Während unerlaubte Handlungen an jeder Grenze von Nationalstaaten zu finden sind und das Schmuggeln von Waren und Menschen beispielsweise an osteuropäischen Grenzen weitverbreitet war, gab das Niemandsland dieser Art von Illegalität eine neue Qualität und Intensität.

Die Vertreibungen im Suwałki-Dreieck brachten Geflüchtete dazu, an der Grenze herumzustreifen mit dem Ziel, einen Weg zu finden, sie illegal zu überqueren. Die einunddreißig Männer, Frauen und Kinder beispielsweise, die die Kommission auf dem Feld vorfand, waren alle, die von den 281 Juden übriggeblieben war, die aus Wiżajny vertrieben worden waren: jüngere und körperlich fähige Geflüchtete versuchten, zu entkommen, und ließen Familien mit kleinen Kindern, ältere und kranke Menschen zurück. Die Zeugin, die in das Niemandsland zusammen mit ihrer Tochter gebracht worden war, berichtete davon, dass sie sich nach circa zwei Wochen einer Gruppe angeschlossen hatte, die die litauische Grenze überqueren wollte und von einem Mann mit vier Kindern angeführt wurde.

„Bis zu meinem Tode werde ich das nicht vergessen können. Wir schleppten uns über die Felder, müde, erschöpft, frierend und nur halb lebendig. Als es dunkel wurde, verirrten wir uns und sanken hinein in die sumpfigen Böden bis zu unseren Knien. […] Wir drohten den Kindern, dass, falls sie nur ein Wort sagen sollten, wir sie essen müssten.“

Trotz der Hilfe litauischer jüdischer Aktivisten und eines bezahlten Schleppers wurde die Zeugin letztlich von litauischen Soldaten gefasst und ins Niemandsland zurückgeführt. Erst einige Tage später wurde sie und weitere fünfzehn Geflüchtete erfolgreich über die Grenze geschmuggelt und erreichte das litauische Vilkaviškis, wo ihnen von Seiten der einheimischen Juden und des Joint geholfen wurde. Für eine kurze Zeit wurde Litauen so ein temporärer und unberechenbarer Ort der Zuflucht und für wenige auch ein Tor zur Weiterflucht.

Für Länder wie Litauen stellte das Niemandsland einen Raum dar, der in einer Welt des Nationalstaats nicht hätte existieren dürfen. Anstelle von Grenz- und Territoriumssicherung stand es sinnbildlich für die zunehmende Krise ihrer Souveränität. Für die Geflüchteten dagegen war es der ultimative Alptraum: eine Kombination aus körperlichem Leiden und dem Gefühl des Verlassenseins gepaart mit der brutalen Erkenntnis, von Staatsbürgerschaft und Rechten buchstäblich ausgegrenzt zu werden.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des „Unlikely Refuge?“ Projekts, das vom European Research Council (ERC) als Teil des Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramms (Grant Agreement Nr. 819461) finanziert wird. Die Forschung für diesen Artikel wurde durch das Sorrell and Lorraine Chesin/JDC Archives Fellowship und durch das Margit Meissner Fellowship for the Study of the Holocaust in Czech Lands am Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museum ermöglicht.

    Fußnoten

  • 1Memorandum – “Nobody’s Land”, 10. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.
  • 2Memorandum – “Nobody’s Land”, 10. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874; Traurige Bilder aus dem “Niemandsland” (German translation of an article from Lietuvos Žinios, 14. 11. 1939, US Holocaust Memorial Museum, RG 14.108M, Selected records from the Political Archive of the German Ministry of Foreign Affairs (RZ 214, Referat D-Abteilung Inland), R99491, microfiche No 5845.
  • 3Undatiert and anonymous testimony (first page missing), JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.
  • 4Beckelman, Moses: Memorandum re expulsions over the Lithuanian German border, 8. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.
  • 5Beckelman, Moses: Memorandum re expulsions over the Lithuanian German border, 8. 11. 1939, JDC Archives, New York Office Records, 1933-44, file 874.
  • 6Holc, Janine, 2018: The Polish-Lithuanian Borderlands, Past and Present: Multicultural versus Decolonial Responses to Local and State Violence, pp 654–670 in: Nationalities Papers 46(4).
  • 7Żbikowski, Andrzej, 2017: Poles and Jews in Vilnius Region in 1939-1941, pp 55-65 in: Venclauskas, Linas (ed.): Casablanca of the North: Refugees and Rescuers in Kaunas 1939-1940, Vilnius / Kaunas: Versus aureus / Sugihara Diplomats for Life Foundation, 2017, pp 56.
  • 8Żbikowski, Andrzej, 2017: Poles and Jews in Vilnius Region in 1939-1941, pp 55-65 in: Venclauskas, Linas (ed.): Casablanca of the North: Refugees and Rescuers in Kaunas 1939-1940, Vilnius / Kaunas: Versus aureus / Sugihara Diplomats for Life Foundation, 2017, pp 57.
  • 9Liekis , Šarūnas, 2017: The Suwalki Triangle. A Window into the Genocidal Future, 83-93 pp 83-93 in: Venclauskas, Linas (ed.): Casablanca of the North: Refugees and Rescuers in Kaunas 1939-1940, Vilnius / Kaunas: Versus aureus / Sugihara Diplomats for Life Foundation, 2017, pp 90.
  • 10Berelson, Yeheskel: The Destruction of Suwalk, in: Kagan, Berl (ed.): Memorial Book of Suvalk, http://www.jewishgen.org/yizkor/Suwalki/suwe049.html (June 22, 2017).