Massenabschiebung polnischer Jüdinnen*Juden aus Deutschland 1938 und ihre Folgen
Ende Oktober 1938 wurden, in einem Paradigma für folgende antijüdische Maßnahmen des NS-Staates, etwa 18.000 der in Deutschland lebenden polnischen Jüdinnen*Juden im Rahmen der sogenannten „Polenaktion“ deportiert. Viele von ihnen wurden staatenlos und monatelang in einem Niemandsland an der Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Polen gefangen. Darunter waren auch die Eltern von Herschel Grynszpan, einem in Paris lebendem polnisch-jüdischen Flüchtling, der am 7. November in einer Vergeltungsaktion den Botschafter des Deutschen Reiches in Frankreich, Ernst vom Rath, erschoss.
Der Mord an vom Rath bot dem NS-Staat einen willkommenen Vorwand für die Novemberpogrome, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November und im Laufe des Folgetages stattfanden und staatlich organisierte und größtenteils von SS und SA durchgeführte gewaltsame Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung darstellten. In Folge der Pogrome fanden Deportationen jüdischer Männer in Konzentrationslager statt. Dort stellte man die Häftlinge vor die Wahl: Verpflichteten sie sich zur schnellstmöglichen Emigration, wurden sie entlassen. Im Dezember 1938, kurz nach diesen Vorkommnissen, verkündete Göring den Gauleitern, Oberpräsidenten und Reichsstatthaltern, was Hitler angewiesen habe:
„An der Spitze aller unserer Überlegungen und Maßnahmen steht der Sinn, die Juden so rasch und so effektiv wie möglich ins Ausland abzuschieben, die Auswanderung mit allem Nachdruck zu forcieren, und hierbei all das wegzunehmen, was die Auswanderung hindert.“
Neben diesen konkreten Maßnahmen der forcierten Vertreibung erließ das NS-Regime immer weitere Gesetze und Verordnungen, die den im Gebiet des Deutschen Reiches lebenden Jüdinnen*Juden das Leben so erschwerten, um sie zur Flucht zu bewegen. Im Jahr 1935 wurden die Nürnberger Gesetze erlassen, die nach einer rassistischen Ideologie definierte, wer jüdisch war. Dieser vom Staat umgesetzte Antisemitismus führte dazu, dass die als jüdisch definierten Menschen nicht mehr wie zuvor arbeiten, leben und besitzen durften.
Auswanderung mit Hindernissen
Die Vertreibungspolitik des NS-Staates führte dazu, dass immer mehr Jüdinnen*Juden sich zur Auswanderung gezwungen sahen. Die deutsche Regierung drängte darauf und schlug Profit aus der Auswanderung, indem sie verhinderte, dass Privatkapital aus Deutschland ins Ausland verlegt würde und bis zu 70 Prozent des Kapitals einbehielt. Diese Restriktionen verschärften sich mit der Zeit. Ab 1938 zwang dann die sogenannte Fluchtsteuer die Flüchtlinge dazu, bei der Auswanderung zusätzlich noch ein Viertel ihres Vermögens abzugeben. Im April 1938 mussten alle Jüdinnen*Juden in Deutschland ihr Kapital detailliert angeben. Die Summe der Beträge – etwa sieben Milliarden RM – sollte in die „deutsche Volkswirtschaft“ und somit in die Aufrüstung fließen.
Im November 1938 wurde in Berlin die Reichszentrale für jüdische Auswanderung gegründet, die analog zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien die Auswanderung insbesondere mittelloser Jüdinnen*Juden aus Deutschland erzwingen sollte. Gleichzeitig trieb die Institution die wirtschaftliche Ausplünderung der Emigrierten voran.
Es gab drei Organisationen, die die Flüchtlinge zur Auswanderung berieten. Die finanziellen Hindernisse machten es vielen Menschen unmöglich, zu fliehen – auch, weil die Zielländer als Bedingung zur Einreise Eigenkapital forderten. Internationale jüdische Organisationen wie die Jewish Agency leisteten Vermittlungsarbeit zwischen der deutschen und den Auslandsregierungen.
Etwa drei Fünftel der Jüdinnen*Juden in Deutschland gelang die Emigration. Die meisten von ihnen gingen in die USA, darauf folgten das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, Großbritannien (etwa ein Fünftel davon Kinder, die ohne Eltern einreisten) und südamerikanische Staaten. Das letzte mögliche Fluchtziel blieb für viele bis 1941 Shanghai, für das kein Einreisevisum benötigt wurde.
Der Madagaskar-Plan
Der Plan der nationalsozialistischen Regierung, etwa vier Millionen Jüdinnen*Juden aus Europa in die damalige französische Kolonie Madagaskar zu deportieren, wurde bis zum Sommer 1941 in Berlin verhandelt. Die Ernsthaftigkeit dieses Plans ist jedoch heute umstritten und wird primär als Täuschungsversuch der Regierung interpretiert. Auch Hannah Arendt schrieb 1963, der Madagaskar-Plan sollte „von vornherein als Deckmantel dienen, unter dem die Vorbereitungen für physische Vernichtung des westeuropäischen Judentum vorangetrieben werden konnten“. Die Vernichtung der polnischen Juden sei ebenfalls „beschlossene Sache“ gewesen.
Ausbürgerung – Ausreiseverbot – Systematische Deportationen
Bereits ab 1933 veröffentlichte der Reichsanzeiger die Namen der Menschen, denen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden war. Zu den ersten Ausgebürgerten zählten die aus Osteuropa eingewanderten Jüdinnen*Juden. Mit Hilfe der Gesetze „über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft“ sowie „über die Einziehung des kommunistischen Vermögens“ wurde ihnen die nach dem Ersten Weltkrieg zugestandene deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt.
Nach der Okkupation der mittel- und osteuropäischen Länder durch das Deutsche Reich wurde den dort lebenden Jüdinnen*Juden jegliche Staatsangehörigkeit aberkannt – sie wurden staatenlos.
Mit der „11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ im November 1941 entzog die deutsche Regierung dann allen im Ausland lebenden Jüdinnen*Juden automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig, im Oktober 1941, wurde ein Ausreiseverbot für Jüdinnen*Juden veranlasst und es begannen die systematischen Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Das zurückgelassene Eigentum der Menschen, denen die Flucht gelungen war oder die deportiert worden waren, beschlagnahmte die Regierung.