„Sugihara bat seine Regierung, diese [Transitvisa] zur Verfügung zu stellen. Ohne sie wäre es nicht möglich, den Russen zu entkommen. Sugihara war sich offenbar im Klaren über das Schicksal, das die Juden in Polen und überall in Europa bedrohte. Zunächst bat er seine Regierung um die Erlaubnis, diese Visa von Japan erteilen zu lassen. Die Regierung lehnte ab. Sie wollte nicht mit uns belastet werden. Dann gab er uns die Genehmigungen, denn wir hatten ein anderes Ziel. Wir würden nicht in Japan bleiben.“
Marcel Weyland (Interview mit POLIN, 2015)
Die Mitglieder der Familie Weyland gehörten zu mehreren tausend polnischen Staatsbürgern, jüdischen und nichtjüdischen, die im Zuge des deutschen Einmarsches ab dem 1. September 1940 nach Vilnius flohen. Wie die Mehrheit der Flüchtlinge sahen sie Vilnius als vorübergehenden Zufluchtsort und Transit für die weitere Flucht aus Europa. Sowohl die drohende sowjetische als auch Angst vor einer deutschen Besatzung des neutralen Litauens waren Anreize, eine Weiterflucht zu organisieren.
Im Frühjahr 1940 wandte sich eine Gruppe polnischer Flüchtlinge, die meisten von ihnen jüdischer Herkunft und unter ihnen die Weylands, an Sugihara Chiune (1900-1986), der als Vizekonsul des japanischen Reiches in Kaunas diente. Während die Weylands Vilnius bereits im April 1940 verließen, waren die meisten Flüchtlinge nach der sowjetischen Annexion Litauens im Sommer 1940 mehr denn je darauf bedacht, aus dem baltischen Raum zu fliehen.
Einige von ihnen wandten sich zuerst an den niederländischen Konsul in Kaunas, Jan Zwartendijk, der ihnen Visa für Curaçao in der Karibik erteilte. Um über die Sowjetunion und Japan nach Curaçao zu gelangen, benötigten sie Transitvisen – und Sugihara war derjenige, der sie ausstellte. Als sich die Gerüchte über diese Chance verbreiteten, kamen weitere Geflüchtete in das winzige japanische Konsulat in der Vaizganto-Straße. Sugihara bat Außenminister Yosuke Matsuoka im Juli 1940, japanische Transitvisa für die jüdischen Geflüchteten auszustellen. In seinen zahlreichen Antworten riet das Aussenministerium Sugihara, nicht gegen die allgemeine Regel der japanischen Regierung bezüglich Transitvisen zu verstossen, die besagt, dass Visa nur denjenigen ausgestellt würden, die die entsprechenden Einwanderungsverfahren durchlaufen hatten und über ausreichende Mittel für Reise und Unterkunft verfügten. Trotz dieser Anordnungen erteilte Sugihara einige tausend Visa (2.139 registrierte), die es ihren Empfängern, darunter viele Kinder wie Marcel Weyland, erlaubten, die Region zu verlassen. Über die Zahlen wird wie üblich viel debattiert, aber insgesamt wurden bis zu sechstausend Flüchtlinge geschätzt, die die Transitvisen zur Flucht aus der Region nutzten.
Zehn Monate später, kurz nachdem Nazideutschland die Sowjetunion angegriffen hatte, wurde die überwiegende Mehrheit der jüdischen Gemeinde in Litauen sukzessive im Holocaust getötet. Bis dahin waren die Empfänger von Sugiharas Transitvisen über die Transsibirische Eisenbahn hauptsächlich nach Ostasien gereist. Marcel Weyland erinnert sich:
„Ich erinnere mich, wie wir durch Moskau reisten. Sie sagten uns, dass der Zug dort anhalten und mehrere Stunden bleiben würde und dass er um fünf Uhr abfahren würde. […] Wir fuhren los, um die Kathedrale und den Kreml zu besichtigen, und kehrten beiläufig eine Stunde vor der geplanten Abfahrt zurück. Aber es gab keinen Zug – er war abgefahren. Glücklicherweise gab es am Bahnhof ein Taxi, und so jagten wir mit diesem Taxi dem Zug hinterher und erwischten ihn an der nächsten Station. Irgendwie schafften wir es, wieder in den Zug zu steigen. In den nächsten drei Wochen fuhr der Zug durch Swerdlowsk, Tomsk, Nowosibirsk, um den Baikal nach Birobidschan“.
Die Familie Weyland erreichte, wie viele andere auch, Japan mit einem Schiff. Rechtlich durften sie zehn Tage bleiben, sie blieben jedoch sieben Monate. Das American Jewish Joint Distribution Committee half bei der Suche nach einer Unterkunft. Als die japanische Regierung feststellte, dass sich die Familie Weyland illegal im Land aufhielt, wurde ihnen ein fünftägiges Ultimatum für die Abreise gewährt. Mit Hilfe von Tadeusz Romer, dem polnischen Konsul in Japan, gelangten sie nach Shanghai, wo sie in einem Lager für Staatenlose lebten, und erreichten schließlich Australien.
Sugihara selbst verließ Kaunas, um zwischen Herbst 1941 und Sommer 1944 verschiedene Stellen in Prag, Königsberg und schließlich Bukarest anzutreten. Obwohl er sein Leben nicht riskierte, um die Transitvisen auszustellen, widersetzte er sich durchaus den allgemeinen Exklusivbefehlen und rettete viele Leben. Als die Sowjetunion Rumänien besetzten, wurden Sugihara und seine Familie verhaftet. Nachdem er in einem Internierungslager festgehalten wurde, konnte er 1947 nach Japan zurückkehren. Nach seiner Rückkehr wurde er entlassen oder zum Rücktritt gedrängt (die Einzelheiten bleiben unklar). Erst Jahrzehnte später, 1985, wurde er von Yad Vashem als ein Gerechter unter den Völkern anerkannt.
Sugiharas Rettungsgeschichte wird in Japan seit den 1990er Jahren gefeiert, als seine Frau Yukiko ihr Memoirenbuch über das Leben und die Aktivitäten ihres Mannes veröffentlichte. Seine Geschichte wurde im Dezember 1992 im Fernsehen ausgestrahlt, es wurden Bücher und Übersetzungen veröffentlicht, Filme gedreht, ein Gedenkpark eröffnet und ein Museum eingerichtet.
Sugihara trat auch in die litauische Erinnerungskultur ein. Der wichtigste Ort des Gedenkens ist das bescheidene Gebäude des ehemaligen japanischen Konsulats in Kaunas, in dem seine Aktivitäten im Sommer 1940 stattfanden. Im Jahr 1999 wurde das Gebäude zur Residenz der Sugihara-Stiftung „Diplomaten auf Lebenszeit“. Außerdem wurde ein Gedenkmuseum eingerichtet. Seit 2001 verleiht das Sugihara-Haus jährlich einen Preis mit dem Titel „Die Person der Toleranz“ an litauische Bürger und Ausländer, die sich gegen Erscheinungsformen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Litauen einsetzen. Marcel Weyland und seine Frau besuchten 2005 auf ihrer Litauenreise das Denkmal in Vilnius.
Sowohl die litauische als auch die japanische Gedächtniskultur sind interessante Beispiele für den allgemeinen „Rettungskult“, der in vielen Ländern vorherrscht und mit dem versucht wird, die allgegenwärtige lokale Kollaboration beim Völkermord der Nazis durch Geschichten über die Rettung von Juden im Falle Litauens in den Schatten zu stellen bzw. im Falle Japans das glatte Bündnis mit dem Naziregime zu überschreiben. Es stimmt, Sugiharas Aktionen haben viele Leben gerettet, und jedes weitere Leben ist zu feiern. Aber müssen wir diese Geschichte in Erzählungen von Heldentum umhüllen?
Mit freundlicher Genehmigung vom POLIN Museum of the History of Polish Jewry | Stories of Refuge
Die Fotografien stammen aus Marcel Weylands Privatarchiv und wurden über das POLIN Museum vermittelt.
Interview: Klara Jackl, Przemysław Jaczewski, POLIN-Museum (2015)
Übersetzung: Andrew Rajcher