Herman Kruk über „Kinderkrankheiten“ und andere Flüchtlingssorgen
Herman Kruk war Geflüchteter aus Warschau, der für die jiddische Zeitschrift Folks-gezunt (Volksgesundheit) der Hilfsorganisation TOZ Reportagen über die Geflüchtetensituation in Vilnius schrieb und als Insider einzigartige Einblicke überlieferte. Für diese Reportage unterhielt sich Kruk mit anderen Geflüchteten, die von „Kinderkrankenheiten“ sprachen, auf die die wirklichen Flüchtlingssorgen folgen.
„Die Geflüchteten in Vilnius hatten schon Pocken und Masern,“ sagte ein Geflüchteter zu mir, „und trotzdem können sie sich immer noch nicht auf die eigenen Füße stellen. Die Kinderkrankheiten eines Flüchtlings durchzumachen, ist peanuts!…“
„Erst wenn wir uns wieder auf die eigenen zwei Beine stellen können,“ sagte er weiter, „werden die wirklichen, die ’nastoyashtshe‘ [von Russisch: echt, wahr, leibhaften] (dabei macht er gewisse Vilner Juden nach) Flüchtlingssorgen anfangen“.
Hier steckt viel Wahrheit drin:
Jeder Flüchtling hat sich hier schon einigermaßen eingerichtet, ein Dach über dem Kopf gefunden, ein bisschen Kleidung bekommen, Mittagsessen in einer Hilfsküche, die zweite Registrierungsrunde mitgemacht… Die Kinderkrankheiten des Flüchtlings sind noch lang nicht vorbei und auf den eigenen Füßen steht er auch noch lange nicht.
Der Winter war ein außergewöhnlich harter – wie als ob er die halbnakten Geflüchteten ärgern wollte. Trotz der Kälte waren die Straßen voll mit Geflüchteten. Etwas hat sie getrieben, wegen etwas waren sie in Eile, etwas haben sie gejagt:
Was eigentlich?
Ganz einfach:
– Wie kann man da sitzen bleiben?
Die Telegrafenabteilung der Post war ständig voll, überfüllt, einer beneidete den nächsten. Weshalb? Er weiß es selbst nicht recht, aber bis aufs weitere beneidet er ihn:
– Aha, er telegrafiert nach Amerika!
– Da siehst du es, der da hat ein Telegramm aus Palästina bekommen.
Jeder wollte dort das tun, was der andere tat. Jeder dachte, dass er selbst zum Narren gemacht wurde und der andere es besser weiß.
Man lebt hier davon, dass sich jeder seinen eigenen Hoffnungsschimmer aufbaut:
– Ein Onkel in Amerika…
– Ein Bruder in Argentinien…
– Ein Zertifikat…
– Ein Affidavit…
Und alle laufen in der Stadt umher. Jeder verbirgt ein Geheimnis und jeder trägt es bei sich, während man bei dem oder jenem, bei allen, bei denen sich ein Lächeln auf dem Gesicht zeigt, die Ohren spitzt.
– Aha, er lächelt!
– Ulay yerakhem [vielleicht wird Gott Erbarmen haben; man darf nicht verzweifeln]! Wie kann man ohne Hoffnung leben?
Und man lebt mit diesem Menachem-Mendelshen 11Menachem-Mendl ist eine berühmte literarische Figur des jiddischen Schriftstellers Sholem Rabinovitsh, besser bekannt unter seinem Pseudonym Sholem-Aleichem Wuntsch, dass von irgendwoher der große Gewinn, das Zertifikat, das Affidavit kommen wird.
Ah Erbarmen, die Armen…
Ulay yerakhem.
Fußnoten
1Menachem-Mendl ist eine berühmte literarische Figur des jiddischen Schriftstellers Sholem Rabinovitsh, besser bekannt unter seinem Pseudonym Sholem-Aleichem
Einige Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen beschließt Herman Kruk (1897-1944), polnischer Jude und Aktivist des Bund, angesichts der immanenten Gefahr durch die heranrückende Wehrmacht aus Warschau zu fliehen. Kruk floh nach Vilnius, wo er als Reporter für die jiddische Zeitschrift Folks-gezunt im Frühjahr 1940 über die Geflüchtetensituation, Geflüchtetensorgen, Unterstützungsnetzwerke und Identitätsfragen berichtete und philosophierte.
In Vilnius lebte er fast vier Jahre und durchlebte das Schicksal der jüdischen Gemeinde unter sowjetischer, litauischer, wieder sowjetischer und schließlich deutscher Besatzung. Von 1941 bis 1943 lebte er im Vilnaer Ghetto. Seine Zeit in Vilnius dokumentierte Kruk als Chronist und berichtete über die Unterstützungsnetzwerke für polnisch-jüdische Geflüchtete vor der deutschen Besatzung der Stadt, von seinen vergeblichen Versuchen, aus der Stadt zu fliehen, von seiner Verzweiflung über den Einmarsch der Wehrmacht und seiner Trauer über das Schicksal seiner Heimatstadt Warschau, aber auch über seine Beweggründe, das Erlebte für die kommenden Generationen schriftlich festzuhalten. Im Jahr 1943 wurde er in das Konzentrationslager Klooga nahe Tallinn deportiert, wo er im September 1944 kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee ermordet wurde. Teile seines Manuskripts sind bis heute verschollen.
Exzerpt:
Kruk, Hermann, April 1940: Pleytim (2ter reportazsh), pp. 11–13 in: Folksgezunt: Ilustrirter populer-visnshaftlekher zshurnal far higyene un meditsin 4, p. 11.