The Arrival of Hannah Arendt
Dieser Film beschreibt das Ankommen von Hannah Arendt - einer jüdischen, deutsch-amerikanischen politischen Theoretikerin und Publizistin - in New York und ihre Reflektionen über Flucht und Unterstützung beim Neuanfang.
January 5, 1940
A Comfort
For the last few days my aunt and uncle have been talking to one another in Englisch and often using the word shee. I already know that they’re talking about me: Shee. Shee. It seems that they’ve desided to dismiss the colored girl who comes every day to do housework. Today my aunt gave me some washing to-do- dresses, slips, and socks that belong to her, Selma, and me. She helped me, but I felt as if I were becoming a maid in the house. The work wasn’t hard, but my heart felt as heavy as stone. My aunt said that the girl was ill and it was impossible to know when she would be able to return to work. I would rather have washed the cobblestone streets back home than be here washing Selma’s dresses. And often I think about the fact that I have no idea what’s going on at home now. Maybe being here washing dresses using something called Lux is really a paradise because my home in Lublin is now a hellish place. My one comfort is that I’m going to skool. The teacher there often comes over to my desk to look at my writting. I think she must be a Jew, but I can’t ask her that. Other than a few words that we learned in skool, I still can’t speak English. It’s such a hard language to learn. Who knows if I’ll ever be able to speak it?
January 28, 1940
A World That Disappeared
Selma cries and Marvin dances. I feel so out of place in this house. It’s a good thing that I leave every evening to spend two hours in school. The teacher noticed that I was worried about something, and I guess she wanted to comfort me. „Yur yung“, she said. It’s true that I’m young, but I’ve lived through a lot. The teacher knows nothing of Lublin, mother, father, brothers, Layzer and our walks in the woods, Uncle Zaydl with his horse and carriage or his sleigh. Now there is nothing. I was cut off from my world, and that world disappeared. What good does it do me to be young?
5. Januar, 1940
Ein Trost
Seit ein paar Tagen reden meine Tante und mein Onkel auf Englisch miteinander und benutzen oft das Wort „shee“. Ich weiß schon, dass sie über mich reden: Shee. Shee. Es scheint, als hätten sie beschlossen, das farbige Mädchen zu entlassen, das jeden Tag kommt, um die Hausarbeit zu machen. Heute hat mir meine Tante ein paar Kleider, Unterhosen und Socken zum Waschen gegeben, die ihr, Selma und mir gehören. Sie half mir, aber ich fühlte mich, als würde ich zu einem Dienstmädchen im Haus. Die Arbeit war nicht schwer, aber mein Herz fühlte sich so schwer an wie Stein. Meine Tante sagte, das Mädchen sei krank und man wisse nicht, wann sie wieder arbeiten könne. Lieber hätte ich zu Hause die Kopfsteinpflasterstraßen gewaschen, als hier Selmas Kleider zu waschen. Und oft denke ich darüber nach, dass ich keine Ahnung habe, was jetzt zu Hause los ist. Vielleicht ist es wirklich ein Paradies, hier Kleider zu waschen und dabei etwas zu benutzen, das sich Lux nennt, denn mein Zuhause in Lublin ist jetzt ein höllischer Ort. Mein einziger Trost ist, dass ich in die Schule gehe. Die Lehrerin dort kommt oft an meinen Schreibtisch, um sich meine Arbeiten anzusehen. Ich glaube, sie muss eine Jüdin sein, aber das kann ich sie nicht fragen. Außer ein paar Worten, die wir in der Schule gelernt haben, kann ich immer noch kein Englisch sprechen. Es ist so schwer, diese Sprache zu lernen. Wer weiß, ob ich sie jemals sprechen kann?
28. Januar, 1940
Eine Welt, die verschwunden ist
Selma weint und Marvin tanzt. Ich fühle mich so fehl am Platz in diesem Haus. Es ist gut, dass ich jeden Abend zwei Stunden in der Schule verbringe. Die Lehrerin hat gemerkt, dass ich mir Sorgen mache, und ich glaube, sie wollte mich trösten. „Yur yung“, sagte sie. Es stimmt, dass ich jung bin, aber ich habe schon viel erlebt. Die Lehrerin weiß nichts von Lublin, von Mutter, Vater, Brüdern, Layzer und unseren Waldspaziergängen, von Onkel Zaydl mit seinem Pferdewagen oder seinem Schlitten. Jetzt gibt es nichts mehr. Ich wurde von meiner Welt abgeschnitten, und diese Welt ist verschwunden. Was nützt es mir, jung zu sein?
Die Autorin des Romanes „A jewish Refugee in New York“ Kadya Molodowsky ist eine der wichtigsten jiddischen Dichterinnen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1894 in Bereza Kartuska, Russisches Kaiserreich geboren und erlebte die typische Trajektorie der jüdischen Migration des 20. Jahrhunderts: Odessa, Kyjiw, Warschaw, New York, Tel Aviv. Im Laufe des Lebens war sie als Lehrerin, Herausgeberin, Dichterin, Kritikerin, Dramatikerin und Schriftstellerin tätig. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, arbeitete sie in einem Tagesheim für geflüchtete jüdische Kinder, das von ihrem Lehrer in Warschau geführt wurde. Diese Arbeit führte sie bis 1917 an verschiedenen Orten fort. Später zog sie nach Odessa, um der Kriegsfront zu entkommen, und lehrte dort in einem Kindergarten. 1917 konnte sie nach der Oktoberrevolution nicht zu ihren Eltern zurückkehren, und blieb so in Kyjiw, wo sie wieder eine Arbeit als Erzieherin annahm. Als sie 1920 das Pogrom in Kyjiw überlebte, veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht.
1935 zog sie nach New York, wo sie ihr Buch „In Land fun Mayn Gebayn“ („Im Lande meiner Knochen“) veröffentlichte. Darin thematisiert sie in fragmenthaften Gedichten die Internalisierung des Exils.
In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchtete- Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.
Kadya Molodovsky (übersetzt von Anita Norich), 2019: Jewish Refugee in New York. A Novel by Kadya Molodovsky. Bloomington: Indiana University Press, S. 4-5, 8-9.
Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche © Minor.