„Ist es am Ende besser, zu Hause im Gefängnis zu landen, als mit der Ungewissheit im Exil konfrontiert zu sein?“

Isa Artar erzählt über seine Erfahrungen sowie Identitätsprobleme nach dem Ankommen im Exil.

Ist es am Ende besser, zu Hause im Gefängnis zu landen, als mit der Ungewissheit im Exil konfrontiert zu sein? Gefängnis ist wenigstens eindeutig und berechenbar. 6 Monate im Gefängnis und dann kann man wieder zu seinen Freund*innen zurückkehren. In Deutschland wartet Isolation, weil man dort noch nicht Mal Nachrichten in der fremden Sprache konsumieren kann. Ist der Mangel an sprachlichem Zugang eine andere Form des Gefängnisses?[…]

Isa Artar, privates Foto.
İsa Artar © Isa Artar

Die Entscheidung zur Flucht fällt, weil man im Herkunftsland keine Chancen mehr sieht und auf neue Chancen im Exil hofft. Die erhofften Chancen unterscheiden sich jedoch oft erheblich von den tatsächlichen Chancen. Am Anfang hatte ich kein Heimweh, weil ich so optimistisch in Bezug auf meine Zukunft in Deutschland war. Nach vier Jahren kommt das Heimweh so langsam hoch.[…] Deutschland ist als Fluchtziel attraktiv, weil Sprachkurse finanziert werden und es keine hohen Studiengebühren gibt. Bafög und die Möglichkeit, einen Abschluss zu erwerben erhöhen die Chancen, in einem qualifizierten Beruf zu arbeiten. Hartz IV kann sich wie ein Stipendium anfühlen, um sich ein neues Leben aufzubauen und Bildung zu erwerben.[…]
In der Türkei geht man anders mit Höflichkeit um und toxische Männlichkeit verhindert Höflichkeiten. In Deutschland gefällt mir gut, dass man „Bitte“ und „Danke“ sagt und Höflichkeit nicht als Schwäche, sondern Stärke empfunden wird. Im deutschen Supermarkt sagen alle immer freundlich „Guten Tag“, im türkischen Supermarkt sind die Leute weniger höflich, weil das eher dem türkischen Bild von Männlichkeit entspricht.[…]
Integration ist das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Wenn es sich so anfühlt, das Deutschland ein Teil der eigenen Identität ist, ist viel mehr erreicht, als wenn nur Formalitäten erfüllt sind. Ich kenne meinen Kiez. Ich kenne den Späti, den Dönerladen und die Leute in der Nachbarschaft. Berlin ist meine neue Heimat geworden.[…]
Wartet man auf die Rückkehr? Oder versucht man, vollkommen anzukommen? Viele denken selbst nach Jahren im Exil immer noch mehr an das Zurückkehren und weniger an das Da-Sein. Wenn ich mir die älteren türkischen Generationen anschaue, die immer darüber nachgedacht haben, zurückzugehen, nie die Sprache gelernt haben und nach 30 Jahren gemerkt haben, dass sie ihr Leben hier vermissen: Ich will nicht daran denken, zurückzugehen. Ich möchte glauben, dass ich hier ein Leben haben werde.[…]
Man muss sich permanent beweisen und rechtfertigen, weil Menschen einem mit Vorurteilen begegnen. Arm, schwach etc.: es werden einem Eigenschaften zugeschrieben, die man eigentlich gar nicht hat. Ich musste z.B. beweisen, dass ich ein Atheist bin. Menschen glauben zu wissen, wer man ist. Man flieht von einer Form von Unrecht und erfährt andere Formen des Unrechts. Politischer Flüchtling ist ein Begriff, der einem einen Status und eine Identität verleiht. Der Asylprozess brachte allerhand Identitäten mit sich: „Politischer Flüchtling“, „Verheirateter Mann“: In der Türkei hätte ich wahrscheinlich nicht so jung geheiratet. Die Flucht hat die Entscheidung beschleunigt. „Student“ ist ein Status, der mir Respekt verschafft hat. Solche „Titel“ waren für meine Identität wichtig. Als „Flüchtling“ gesehen werden nimmt einem die Chance als der Mensch, der man eigentlich und darüber hinaus ist, wahrgenommen zu werden.[…]

Sprache schafft Heimat. Je intensiver ich Deutsch lernte, desto leichter wurde es, sich hier wohl zu fühlen und von meinem Umfeld akzeptiert zu werden.

Nachdem er bereits in der Schule und Universität politisch aktiv gewesen war, engagierte sich İsa Artar 2013 in der Gezi-Protestbewegung. 112013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben. Danach wurde er neben seinem Studium der Kunstgeschichte Chefredakteur des unabhängigen und kritischen Nachrichtenportals „Siyasi Haber“. Nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Recep Tayyip Erdoğan im Juli 2016 kam es in der Türkei zu massenhaften Entlassungen im Militär und im öffentlichen Dienst. Die staatliche Verfolgung von Oppositionellen und Regierungskritiker*innen, insbesondere Journalist*innen hat seitdem stark zugenommen. Auch İsa Artar geriet ins Visier der Behörden. Bevor jedoch Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, gelang ihm im Dezember 2016 die Flucht nach Deutschland. Mittlerweile hat er Asyl erhalten, studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften und schreibt u.a. für den Tagesspiegel.

    Fußnoten

  • 12013 begann im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul eine breite Protestbewegung gegen die Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Die ursprünglich gegen ein geplantes Bauprojekt gerichteten Demonstrationen entwickelten sich zu einer vielfältigen zivilgesellschaftlichen und wirkungsvollen Bewegung, die auch international viel Unterstützung erfuhr und sich über Istanbul hinaus ausbreitete. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstrationen vor, dabei kamen auch einige Menschen ums Leben.

In einem Online-Workshop, den die Stiftung Exilmuseum und das We Refugees Archiv im Januar 2021 organisierten, sprachen Menschen mit Fluchterfahrungen über ihr Exil in Berlin und entwickelten gemeinsam ein ABC des Ankommens.