Protokoll 79: Interview mit Chaim-Leyb D. über seine Flucht durch Polen nach Vilnius, Dezember 1939
Chaim-Leyb D. wurde am 21. Dezember 1939 vom „Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939“ zu seiner Flucht durch Polen im litauischen Vilnius interviewt.
געגעסן האָבן מיר אין די פּויערן, בײַ די באַשפּײַזונג־פּונקטן פֿאַר די פּליטים: לרובֿ האָבן עס אײַנגעאָרדנט פֿון אײגענער איניציאַטיװ די לאָקאַטאָרן פֿון די געגעבענע הײַזער.
ייִדן זענען געבליבן אין די קאַמערן. אויך די דאָזיקע גרופּע, פֿון לאָדזשער װאָיעװאָדשאַפֿט, איז געװאָרן אָפּגעפֿאַרטיקט, װי די פֿריערדיקע, די פּאָמערשע.
געבליבן זענען אין די געבײדעס בלויז ציװילע ייִדן און מיליטער־לײַט (ייִדן און פּאָליאַקן).
נאָכדעם, װי די 2 גרופּעס קריסטן (די פּאָמערשע און די לאָדזשער) זענען אַװעק, האָט מען אַרויסגערופֿן אַלע ייִדן אויפֿן הויף, געהײסן זײ אויסשטעלן זיך צו 3 אין אַ רײ. דאָ האָט אַ דײַטשער אָפֿיציר געמאָלדן, אַז מ’דאַרף רײן מאַכן די קיך, ברענגען אַלץ אין אָרדענונג, אַרויסטראָגן די בעטלעך און מאָרגן פֿרי, נאָכדעם, װי מיר װעלן רײן מאַכן דעם אויבערשטן שטאָק, װעלן מיר אָפּגעלאָזט װערן אין די הײמען. מיר האָבן די אַרבעט מיט פֿרײד אויסגעפֿירט.
Ich verließ Pabianice das erste Mal am 5. September 1939 in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch und erreichte Warschau zu Fuß am Freitag, den 8., morgens.
Auf meiner Reise kam ich an Łódź, Stryków, Głowno, Łowicz, Sochaczew, Grodzisk vorbei.
In Warschau blieb ich von Freitag, den 8. September, bis Sonntag, den 17. Am Sonntag, den 17., verließ ich Warschau, lief durch Libozs [Żoliborz], die Steppe von Kempinovska, Sochaczew, Aleksandrówek, Bolimów, Łowicz, Głowno, Stryków, Łódź und kam am 24. September wieder in Pabianice an.
Es war in der Nacht vom 5. auf den 6. September in Pabianice. Zusammen mit noch einem hatte ich Wachdienst auf dem Hof, wo ich gewohnt habe. Wir haben große Militärbewegungen von der Lasker Seite in Richtung Łódź bemerkt. Ein polnischer Soldat, der zufällig an einem jüdischen Bäcker vorbeikam, erzählte, dass die Deutschen anrücken und schon sehr nah vor unserer Stadt sind, und dass Piotrków Trybunalski (einige dutzend Kilometer von Pabianice entfernt) von den Deutschen schon eingenommen wurde.
In unserer Stadt war schon keine Polizei mehr, auch die Feuerwehrleute waren schon weggelaufen. Auch sehr viele Zivilisten sind schon früher ausgezogen. Und in dieser Nacht fing es an, dass fast die gesamte Bevölkerung (sowohl Juden als auch Christen) die Stadt verließ. Geblieben sind nur Alte, Kranke und Frauen (ein Teil der Frauen ist auch weggelaufen). Die meisten gingen zu Fuß. Die Reicheren [S. 2] mieteten Wagen. Mitgenommen hat die einfache, nicht vermögende Mehrheit fast gar nichts. Man verließ Pabianice, wie man geht und steht. Auch ich habe mich dann um 4 Uhr morgens aufgemacht.
Bis zu meinem Verlassen war die Stadt ein paar Mal von deutschen Flugzeugen bombardiert worden, aber es gab keine größeren Schäden. Eine Bombe fiel auf die Konstantynowska und die Maydaner Straße. Es gab einige menschliche Opfer. Auf der Konstantynowska Straße wurden einige jüdische Kinder von Wieluń Geflüchteten und ein jüdisches Kind von Pabianice getötet.
In Łódź kam ich am Mittwochmorgen, den 6. September, an und bin in der Stadt nur circa zwei Stunden geblieben. Ich ging zu einem meiner Onkel, aber angetroffen habe ich ihn schon nicht mehr, weil er wie viele andere Łódźer die Stadt verlassen hatte. Ein Teil der Einwohner von Łódź verließ die Stadt über Brzeziny (Bzshezshin bei Łódź) und ein anderer Teil über Stryków. Ich habe den Stryków-Weg benutzt.
Im Verlauf des Mittwochs war ich in Stryków, Głowno und erreichte abends Łowicz.
Ich weiß nicht, wie Stryków und Głowno ausgesehen haben, weil wir die Shtetelekh umgangen haben (wir liefen auf der Chaussee und die Chaussee geht nicht direkt durch das Shtetl). Łowicz brannte, alles stand in Flammen. Das Ergebnis deutscher Zündbomben. Die Bevölkerung der Stadt rannte.
Zusammen mit einem Freund entdeckte ich in Łowicz den Wagen eines Bauern, der mit Polizeirekruten gefahren ist. Wir haben mit ihm abgemacht, dass er uns für 10 Gulden nach Warschau bringen soll. So fuhr er also mit uns für einige Kilometer, bis er uns plötzlich vom Wagen warf. Das Geld hat er nicht zurückgegeben. Wir kehrten nach Łowicz zurück. Hinter der Stadt gingen wir in das leerstehende Haus eines Bauern (die Hauseigentümer waren schon entlaufen) […]. Dort habe ich mich mit meinem Freund zum Schlafen hingelegt. So schliefen wir bis 12 Uhr mittags und danach machten wir uns wieder auf in die Richtung von Sochaczew.
In Sochaczew sind wir am Donnerstagabend, den 7. September, [S. 3] angekommen.
In Sochaczew haben das Frauenkrankhaus und andere Orte gebrannt. Auch im die Stadt umgebenden Wald sind große Feuer ausgebrochen durch die Zündbomben, die von deutschen Flugzeugen abgeworfen wurden.
Auf dem Weg trafen wir polnische Militärrekruten. Wir gaben einem Soldaten (einem Ukrainer) Tomaten, er im Gegenzug gab uns Zigaretten (einige Pakete) und führte uns bis nach Grodzisk.
Grodzisk hatte schon ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung verlassen. Überall traten wir auf Glasstücke der zerbrochenen Scheiben. Wir gingen in die jüdische Bäckerei. Die Bäckersfamilie war eine der wenigen jüdischen Familien, die noch in der Stadt gewesen ist. Ich kaufte ein Kilo Brot. Ein kleines Stück Brot gab ich einem polnischen Soldaten mit der Bitte, er solle mich nach Warschau mitnehmen. (Meinen Freund habe ich auf dem Weg zwischen Sochaczew-Grodzisk verloren). Ich bin mit dem Soldaten solange mitgefahren, bis es angefangen hat zu dämmern. Kurz vor Warschau bat er mich, vom Wagen abzusteigen.
Ich ging 14 Kilometer zu Fuß und kam um circa 10 Uhr morgens in Warschau an. Auf der Valske Straße 84 bat mich ein dort lebender Jude hinein, gab mir und noch anderen Wanderern Utensilien, um uns zu waschen, kochte für uns Essen und erlaubte uns, uns hinzulegen. Ich schlief dort für einige Stunden.
Die erste Nacht übernachtete ich in einem Schutzgraben im Hof der Bräuerei Haberbusch und Schiele auf der Grzybowska Straße 33. Danach brachte mich ein Freund aus Pabianice – er hieß Goldberg und war Mitglied des „Bund“ – in die Twarde Straße 4, in ein Haus der jüdischen Gemeinde, wo vorher eine Schule drin war. Dort waren einige hundert Geflüchtete aus Łódź, Wieluń, Pietrkov, Sochaczew etc. untergebracht.
Wir aßen in den Toren, bei den Essensausgabepunkten für Geflüchtete: Die Mehrheit wurde auf Eigeninitiative von den Mietern der jeweiligen Häuser eingerichtet.
Das Leben in Warschau in diesen Tagen war die Hölle. Lebensmittel hat man nur wenige bekommen. Einige Lebensmittel (wie beispielsweise Hering) gab es im Überfluss, andere waren dagegen sehr teuer – eine Gans von 5 Pfund zu Rosh [S. 4] Hashanah hat 80 Zloty gekostet (für die, die es sich erlaubenn konnten). Für Brot stand man für gewöhnlich stundenlang an und wartete. Tausende standen in den Schlangen für Brot. Noch einige Bäckereien waren in Betrieb. Deutsche Bomben flogen über unsere Köpfe ohne Unterlass. Menschen sind die ganze Zeit durch Bomben und Granatsplitter gestorben.
Moyshe Sheradykiv (Pabianice) – ein reicher Fabrikant, in Pabianice wohnte er auf der Kopernik Straße 15, ungefähr 30 bis 32 Jahre alt, starb auf der Gente Straße (in Warschau). Man hat ihn inmitten der Straße begraben nachdem der Waffenstillstand geschlossen wurde. Als seine Mutter nach Warschau kam, hat man ihn auf den Friedhof umgelegt.
Die Verteidigung Warschaus begann. An vorderster Front stand General Tshuma. Die Arbeiterschaft hat sich aktiv an der Vorbereitung der Verteidigung beteiligt. Jeden Tag tauchten auf der Straße Aufrufe und Meldungen auf: Auf Polnisch von der P.P.S., 11Abkürzung für Polska Partia Socjalistyczna, Polnische Sozialistische Partei auf Jiddisch und Polnisch vom “Bund”.
Die Straßen füllten sich mit Barrikaden. Man fing am Sonntag, den 10. September, an, die Barrikaden zu bauen. Ich arbeitete mit beim Barrikadenbau auf der Wolska Straße, bei der Brücke nach Włochy. Dann wollten mehrere deutsche Flugzeuge die Brücke bombardieren, aber es gelang ihnen nicht. Die sechs Bomben, die die deutschen Flugzeuge abgeworfen haben, sind daneben gefallen.
Barrikaden waren auf allen Straßen (außer auf der Marszałkowska). Eine Barrikade wurde folgendermaßen gebaut: Man brach die Straßen auf, zwei Meter in die Tiefe und Breite, und schüttete die herausgeworfenen Steine und Erde daneben auf. Auf den so entstandenen Wall warf man noch Pferdekutschen, Güterwagen, Autos, Schubkarren, (mit Steinen und tausend Sandsäcke aufgefüllte) Tramwagons, alte Möbelstücke, Kioske etc. hinauf.
Der erste Tag von Rosh Hashanah war ein sehr schlechter Tag. Es kam eine Schwadron 200 deutscher Flugzeuge angeflogen und bombardierte große und kleine Häuser, ohne Unterschied – sie schossen auf die Menschen in den Brotschlangen. An diesem Tag gab es die größte Zahl menschlicher Opfer.
[S. 5] In jedem Haus stand das polnische Militär. In allen Stadtgärten stand die Artillerie. Man bewachte Warschau und sehr oft kehrten die deutschen Flieger nicht zu ihrer Basis zurück. So sah ich zum Beispiel wie auf der Letne Straße – beim neuen Gerichtsgebäude – ein polnisches Flugabwehrgeschütz einen schweren deutschen Bomber abgeschossen hat.
Am Shabbat, den 16., ging in Warschau ein Gerücht um, dass durch eine offizielle Meldung in allen Zeitungen bestätigt wurde, dass das polnische Militär Łódź zurückerobert hat und dass die Einwohner von Łódź und der Łódźer Umgebung heimkehren können. Ein Weg, auf dem man gehen soll, wurde nicht angegeben. Die Verteidigungskommandantur von Warschau gab gedruckte Passierscheine aus (Przepustki), in denen gesagt wurde:
Hiermit wird der jeweiligen Person erlaubt, Warschau zu verlassen und zu dem jeweiligen Wohnort (der Ort wurde angegeben) im Kreis Łódź zurückzukehren.
Die “Przepustkis” [Passierscheine] wurden in der Regel vom Stadtpräsidenten Stazshinski unterschrieben.
Ich habe so einen Passierschein auch bekommen, um am Sonntag, den 17., nach Hause zu gehen. Ich habe diese Erlaubnis im Rathaus auf dem Theaterplatz erhalten. Das Rathaus wurde genau in diesem Moment bombardiert.
Warschau verließ ich über die Franciszkańska und Bonifraterska Straße, danach vorbei an der Zitadelle. Dort waren etliche dutzend Kanonen und Militär stationiert, über Warschau wachend. Keiner der polnischen Soldaten hat mich angehalten. Vorbei an Żelichów bin ich in den Wald von Kampinoska hinein. Wir waren insgesamt 18 Juden (die Übriggebliebenen waren 8 Pabianicer und 9 Łódźer) und 138 Christen, alle aus Łódź und Umgebung, die zusammen gelaufen sind.
Von den 156 sind auf dem Weg die Hälfte umgekommen (keiner der 18 Juden ist gefallen).
Auf dem Weg mussten wir uns ständig auf die Erde werfen, weil wir ins Tätigkeitsgebiet der deutschen Artillerie und Flugzeuge eingefallen waren. Deutsche Flugzeuge sind sehr niedrig geflogen. [S. 6] Aus einem Flugzeug schrie der Pilot: “Die Zivilbevölkerung kann machen, dass sie fortkommt. Ihr braucht euch nicht fürchten. Wir beschießen die polnischen Schweine.” Etliche hundert Männer aus diesem Ort haben wir bei einem Regiment polnischen Militärs angetroffen, das deutsche Gefangene bei sich im Lager gehalten hat. Die polnischen Soldaten gaben uns Essen, was sie den Deutschen abgenommen hatten. (Das polnische Militär von diesem Ort hat eine deutsche Einheit angegriffen.)
Das polnische Militär hat uns für circa 2 Stunden aufgehalten und uns dann weitergelassen. Nachdem wir uns etwas ausgeruht hatten, sind wir weitergegangen. Wir sind circa 300 Meter gelaufen, als ein deutscher Pilot (mit einem Flugzeug und übrigen Bomben) angehalten und uns aufgefordert hat, die Maschine zu putzen und die Bomben zu aufzuladen. Wir haben drei Bomben aufgeladen. Er hat uns dafür mit Essen und 2 Mark bezahlt.
Am selben Tag haben ich und noch drei Christen uns von der übrigen Gruppe getrennt und sind separat weitergelaufen.
Müde sind wir in ein Bauernhaus hinein, welches im Wald stand. Wir haben erfahren, dass die Deutschen gestern den Ort eingenommen hatten.
In dieser Zeit trafen wir auf eine zweite Gruppe Juden, 21 Mann.
Die erste deutsche Patrouille, die wir getroffen haben, war ein Offizier, ein Leutnant. Er fragte uns, ob wir Juden seien, und wer von uns Deutsch versteht. Also habe ich eingeworfen, dass ich Deutsch verstehe. Alle antworteten, dass sie Juden seien, auch die Christen sagten: “Jude”. Unsere Herzen haben vor Schreck aufgehört zu schlagen, weil wir kurz vor der Front angehalten wurden. Der Leutnant fragte uns, woher wir kämen. Ich antwortete: aus Warschau. Er fragte uns weiter, warum das polnische Militär uns nicht gestoppt habe, und was für eine Genehmigung wir hätten. Wir zeigten ihm die “Przepustkis”. Da er es nicht lesen konnte, habe ich es ihm ins Deutsche übersetzt. Dann sagte er: “Die polnischen Schweine wollen noch Łódź haben? Łódź dürfen sie nicht mehr haben!” Danach hat er gefragt, ob wir hungrig seien. Wir haben das bejaht und sagten, dass wir den ganzen Tag noch nichts gegessen hätten. So gab er uns kalte, geriebene, gekochte Kartoffeln, und ordnete an, dass wir uns schlafen legen, weil es nachts verboten ist, zu gehen.
Unerwartet kamen wir in einem schlechten Dorf an, in Kampinove. Man hat [S. 7] uns dort kein Essen und Trinken gegeben, noch nicht mal gegen Geld. Man hat auf uns böse Hunde angesetzt und uns einfach aus dem Dorf getrieben.
Erst an der Dorfgrenze sind wir zu einem Bauern gegangen, haben ihn gebeten, uns zu erlauben, bei ihm zu übernachten. Der Bauer meinte, dass er keinen Platz hätte, da es schon Leute gäbe, die bei ihm schläfen. Wir sind aber trotzdem dort geblieben. Es stellte sich übrigens heraus, dass bei ihm in der Scheune tatsächlich schon dutzende Juden aus der Łódźer Gegend schliefen. Wir waren jetzt also schon um die 50 Juden, vor allem junge.
Da wir vor Hunger oder Kälte nicht einschlafen konnten, lagen wir also wach da und erzählten einander unsere Erfahrungen.
Um 4 Uhr morgens am Montag, den 18. September, haben wir alle zusammen die Scheune des Bauern verlassen. Als wir auf den Weg hinausgingen, sind wir schon bald am Tor einem deutschen Panzer begegnet. Er hielt an. Aus ihm stieg ein Deutscher aus und redete mit uns in guter Stimmung. Er sagte, dass sie, die Deutschen, die Welt besiegen würden. Und die Juden werde man vernichten (er wusste, dass wir Juden waren). Danach hat er uns allen Zigaretten gegeben und den Weg zur Sochaczewer Chaussee gezeigt.
Nachdem wir circa zwei Stunden durch einen Wald gelaufen sind, kamen wir auf die Chaussee. Wir gingen in die Richtung von Sochaczew. Dort traf ich die anderen 17 Juden, mit denen ich Warschau verlassen und die ich vor einem Tag in den Kampinoskaer Wäldern verloren hatte.
Auf dem Weg trafen wir in einem Dorf, das 14 Kilometer von Sochaczew entfernt war, auf eine Menschenschlange für Brot bei einer Bäckerei. Wir haben uns eingereiht und jeder für 25 Groschen ein Roggenbrötchen bekommen.
Als wir zu etlichen hundert Mann von der Bäckerei weggingen, schloss sich uns noch eine polnische Gruppe à 40 Mann an sowie ein Jude aus Aleksandrów bei Łódź (mit seinem kleinen 10-jährigen Bruder). Dann begegnete uns eine deutsche Patrouille von zwei Soldaten. Die Patrouille stoppte die ganze Gruppe, stellte uns in eine Reihe auf und befahl den Juden, separat hervorzutreten. Kein einziger Jude ist aus der Reihe getreten. Also sagte er, dass alle Polen weitergehen und alle Juden stehen bleiben sollen. Also blieben die Juden stehen.
[S. 8] Als die Gruppe von den Polen abgetrennt wurde, begann der Jude aus Aleksandrów mit seinem Brüderchen, die Soldaten anzuflehen, ihnen die Hände zu küssen, dass auch sie gehen gelassen werden. Ein Deutscher der Patrouille hat seine Waffe genommen und zielte auf den kleinen Jungen. Der Junge wurde ohnmächtig. Wir fingen an, ihn aufzupäppeln. Währenddessen erreichte die Soldaten der Befehl, auch die Polen zurückzuholen, weil der Weg zu gefährlich sei. Es finde dort eine Schlacht statt. Als die deutschen Soldaten wegliefen, um die Polen zurückzurufen, nutzten wir die Gelegenheit, den Jungen auf den Arm zu nehmen, und sind entlaufen. Wir sind weg auf den Weg zum Dorf Aleksandrówek.
Wir kamen in Aleksandrówek um circa 11 Uhr an. Wir waren dann eine Gruppe von 18 Mann – 15 Juden und drei Christen. Im Dorf trafen wir auf deutsche Soldaten. Sie stoppten uns und fragten, ob wir Essen wollen, ob wir hungrig seien. Wir haben ihnen zuerst gedankt und dann geantwortet, dass wir kein Essen wollen. Wir hatten Angst: Vielleicht ist einer der ihren Spitzel, der uns etwas böses will. Kurzum haben sie uns vorgeschlagen, etwas zu essen, und wir konnten es nicht ablehnen – wir haben jeder eine Konserve Fisch und Kekse bekommen. Sie haben aber verlangt, dass wir es sofort aufessen und nicht mitnehmen können. Sie haben uns vorgeschlagen, einen gemeinsamen Tisch zu decken, an den sich auch zehn deutsche Soldaten gesetzt haben (unter ihnen auch Feldwebel), alle schon älter. Wir aßen und sie sangen Militärlieder. So ging es 1,5 Stunden.
Nach dem Essen hat uns der Feldwebel alle registriert, nach den Namen gefragt, aufgezeichnet, wohin wir gehen und freigelassen.
Als wir uns von ihnen verabschiedeten, haben die Deutschen uns angewiesen, dass wenn wir auf deutsche Soldaten treffen, wir sie nicht mit “Heil Hitler” sondern mit “Guten Morgen” begrüßen sollen, weil wenn Juden mit “Heil Hitler” grüßen, darauf gebe es die Todesstrafe.
Mit diesem Rat verließen wir sie und gingen nach Łyszkowice. Als wir an den Ort kamen, wo der Weg in Richtung Łyszkowice führt, trafen wir auf eine Gruppe Juden, die zurückkamen, weil die Deutschen die dort durchgehenden Juden anhalten. Wir haben uns somit in Richtung Bolimów aufgemacht.
Bolimów, eine jüdische Bauernkolonie mit einigen dutzend Familien, war von Kriegsoperationen komplett unberührt. Alle ortsansässige Juden waren noch [S. 9] da. In Bolimów haben wir eine Meldung der deutschen “Ortskommandatur” (auf Jiddisch und Polnisch) gelesen, dass alle Arbeiter so schnell wie möglich heimkehren und mit ihrer früheren Arbeit anfangen müssen. Wir haben aber nicht angehalten und sind mit dem Ziel weitermarschiert, eine Übernachtungsmöglichkeit in Łowicz zu finden (von Bolimów nach Łowicz sind es 17 Kilometer).
Als wir um die zwölf Kilometer gelaufen sind, haben uns deutsche Soldaten angehalten. Hier waren schon um die 3000 gestoppte Juden, Polen und Deutsche (Zivilisten). Das Motiv war: Da es von der polnischen Seite immer wieder zu Ablenkungsaktionen kommt, man schießt auf sie etc., und da demnächst eine große deutsche Militäreinheit durchmarschieren muss, stoppt man alle Zivilisten.
Nachdem wir schon eine Stunde auf einem Platz beim Weg festgehalten wurden, hat man uns in Reihen à drei Mann aufgestellt und nach Łowicz abgeführt.
In Łowicz wurde wir auf dem Marktplatz gesammelt. Gegenüber fuhr ein deutsches Militärauto, auf dem Maschinengewehre platziert waren. Sie richteten die Waffen mit den Schusslöchern auf uns, nahmen ein Magazin und luden die Gewehre. Dabei haben die Soldaten mit den Schusslöchern über die Menge geschwenkt, wie als ob sie schießen. Dabei verlor ein Łódźer junger Mann (aus der Bzshezshiner Straße) das Bewusstsein, weil er dachte, dass die Soldaten in die Menge schießen würden.
Als wir so rumstanden, wurde an uns eine große Gruppe (etliche tausend) polnischer Kriegsgefangener vorbeigeführt. Sie gingen zu Fuß. Die deutschen Soldaten, die sie begleiteten, ritten auf Pferden.
Uns führte man danach in zerstörte Gebäude. Sie haben uns zu etlichen hundert Mann in einen Saal gesteckt (wie wir später erfuhren, waren es die Lager des polnischen 11. Infanterieregiments geführt von Marschall Pilsudski). Es war schon Abend – ungefähr 7, halb 8.
Wir wurden in die Gebäude reingetrieben, uns wurde kein Essen oder Trinken gegeben, kein Heu, auf das man sich legen konnte. In den Sälen gab es keine Bänke oder Holzpritschen. Wir wurden eingeschlossen und das Gebäude wurde stark bewacht. Durch die Fenster informierte uns die Wache, dass wir [S. 10] die menschlichen Bedürfnisse dort verrichten müssen, wo wir schlafen.
Unter uns war einer, dessen Kleidung voll mit Blut war, und die Deutschen machten sich darüber lustig, dass er ein Saboteur ist (wie einige später erzählten, war er deswegen so voll mit Blut, weil er bei getöteten Pferden Stücke Fleisch herausriß und sie roh aß). Man nahm ihn in den Hof für ein Verhör. Mich nahm man, um zu übersetzen, was man ihn fragte und was er antwortete. Sie konnten jedoch gar nichts aus ihm rausbekommen. Er behauptete, dass er gar nichts wüsste und sich an nichts erinnere. Man stellte ihn vor die Wand und befahl ihm, sich mit dem Gesicht zur Wand zu drehen, und dann erschossen sie ihn.
Am nächsten Morgen, als man die Taschen des Erschossenen durchsuchte, fanden sie Dokumente von einem Woyczyk Moniek (oder Józef), der aus Pommern stammte, aus einem Dorf bei Tczew. Er war kürzlich als verrückt diagnostiziert worden und hielt sich in einem Irrenhaus in Warte auf. Es scheint, dass er während der Evakuierung der Anstalt aus dem Irrenhaus entlaufen ist.
Am nächsten Morgen kamen jüdische Frauen zu den Gebäuden, die uns Äpfel und Birnen bringen wollten. Die Polen, die zusammen mit uns waren, haben uns aber nicht zu den Fenstern gelassen. Um doch etwas bekommen zu können, mussten wir eine Hälfte den Christen abgeben.
Ständig kamen neue Gefangene zu uns. Unter anderem kamen an diesem Tag sieben frische Pabianicer Juden zu uns. Normalerweise befahl man Bauern, von ihren Wägen runterzukommen, die Wägen zu verlassen, und man brachte die Bauern zu uns.
Einen ganzen Tag bekamen wir kein Essen, kein Trinken. Für menschliche Bedürfnisse hat man uns nicht herausgelassen. Erst am Abend, als alle schon schliefen, weckte man uns auf: Man ging zur Essensausgabe. Man befahl uns, uns in einer Reihe aufzustellen, und jeder bekam ein halbes Brötchen. Man sagte uns, dass das für morgen sei. Nachdem sich die Menge wieder hingelegt hatte, hat man uns wieder aufgeweckt: Es gibt noch eine Essensausgabe. Deutsche Soldaten brachten mehrere Fässer Hering hinein und ordneten an, soviel zu nehmen, wie man will. Die Leute nahmen 10, 20, 30 Heringe – ich selber habe mir [S. 11] 20 Heringe geschnappt. Nachdem sich die Menge mit Heringen satt gegessen hatte, fing ein schreckliches Brennen an: Durst nach Wasser. Wasser haben wir aber nicht bekommen (es war generell schwer seit den Bränden, Wasser in der Stadt aufzutreiben). Menschen leckten vor Durst die schweißfeuchten Ofenkacheln ab. Die ganze Nacht schrien sie: “Wasser!” Man rüttelte an den Gitterstäben und machte Lärm. Es kam dazu, dass die Soldaten in die Luft schossen. Erst am nächsten Morgen um die Mittagszeit brachten sie etliche Eimer mit schmutzigem Wasser.
Nach dem Wasser haben wir von der ehemaligen lokalen Militärküche eine gute, fette Suppe bekommen (mit grünen Bohnen, Karotten und anderem Gemüse) und Hering dazu. Ein Gefäß, aus dem man essen konnte, haben die Deutschen uns gegeben. Nach dem Essen hat man uns eine Frist gegeben: Innerhalb von 10 Minuten müssten wir die Teller abwaschen. Da dies unmöglich in 10 Minuten zu schaffen war, weil es Wasser nur an einer Stelle und es 3000 Teller zum Abwaschen gab, haben einige angefangen, die Teller zu zerbrechen. Man hatte Angst für einen schmutzigen, nicht ausgewaschenen Teller mit schwerer Arbeit für eine ganze Nacht bestraft zu werden, so dass die Menge mit dem Zerbrechen der Teller ein Mittel gefunden hatte, sich davon zu befreien.
Abends haben wir auf sechs Mann ein Brot bekommen und so viel süßen, gezuckerten Kaffee wie man wollte.
Am dritten Tag, um 11 Uhr morgens, kam ein deutscher Soldat und forderte uns auf, 20 Mann für die Arbeit zu stellen – er verlangte allerdings nicht, dass es Juden sein müssten. Unter den Gefangenen gab es einen deutschen Zivilisten aus Pommern der sagte: “Teraz, panowie żydy do roboty!” [Jetzt sollen die Juden arbeiten] Wir Juden im Gebäude waren zu achtzehnt – haben uns selbst gemeldet, obwohl der Soldat es nicht gefordert hatte.
Man nahm uns auf einen Platz und gab uns die Aufgabe, Telefonkabel von einer Spule auf die andere aufzurollen. Die Soldaten drehten die Spulen und wir haben die Kabel genommen und sie gerade gemacht.
Bei der Arbeit fragte man uns, ob wir Essen wollen. Und man gab jedem von uns eine große Schüssel mit warmem Fleisch und Kekse (Weizenkekse). Jeder hat 10 Stück bekommen. Alle bekamen zwei Pakete Zigaretten (zwölf Stück, sechs pro Paket). Die Zigaretten waren von der Marke Palästina – auf den Paketen stand mit lateinischen Buchstaben: “Jerusalem – Sholem aleykhem”. Gearbeitet haben wir bis 6 Uhr am Abend und wir wurden dann aufgefordert, auch am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu erscheinen.
[S. 12] Nach der Arbeit wurden wir weggeführt, um uns zu waschen. Wir bekamen Abendbrot (Suppe und Brot mit Kaffee) und um halb 8 hat man uns zum Schlafen ins Gebäude zurückgeführt. Wir haben darum gebeten, dass wir auch am nächsten Tag zur Arbeit kommen wollen.
Die Christen in unserer Zelle haben sich über uns lustig gemacht, als wir wiederkamen – das heißt, sie wollten uns provozieren: “Haha, Juden, ihr arbeitet und wir nicht!” Aber die Lage änderte sich schlagartig, als wir die Zigaretten, die wir bekommen hatten, herausnahmen und den anderen anboten. Die Christen haben uns in dieser Nacht einen bequemeren Ort zum Schlafen gegeben.
Am selben Tag, eine Stunde ungefähr bevor wir zurückkehrten, war ein Auto des Roten Kreuzes vor dem Gebäude, in dem wir eingesperrt waren, vorgefahren und hatte 24 Juden zur Arbeit im Krankenhaus mitgenommen. Diese Gruppe von Juden hatte weniger Glück als wir – man schlug sie bei der Arbeit blutig. Fast alle kamen mit verwundeten Gliedern, blauen Augen und Schwellungen.
Am nächsten Morgen ist unsere Gruppe wieder zur Arbeit gegangen, und wir arbeiteten unter denselben Bedingungen wie den Tag zuvor. Wir arbeiteten bis 12 Uhr. Dann bekamen wir Mittagessen und man brachte uns zurück zu der Zelle.
Am Nachmittag desselben Tages (Donnerstag, den 21. September) hat man aus der Zelle alle Gefangenen aus Pommern (Pamazshe) herausgerufen. Heraus kamen nur Christen. Juden gab es bei uns aus dieser Gegend nicht. Die herausgerufene Gruppe bestand aus 500-500 Mann. Die Gruppe bekam einen kollektiven “Befreiungsschein”. Von dieser Gruppe hat ein deutscher Offizier (sein Name: von Gedelberg, ein Kommandant) einen Anführer ausgesucht, der die Gruppe führen sollte, gesagt, wie man gehen, wie man die Deutschen, denen man begegnet, begrüßen soll etc. Proviant hat man ihnen nicht gegeben. Ihnen wurde angeordnet, zu Fuß zu gehen.
Am selben Tag ein bisschen später (um 3, halb 4) wurden die Einwohner der Łódźer Woiwodschaft 22Bezeichnung für polnische Provinz. aufgefordert, aus der Zelle zu kommen. Zuerst gingen die Christen raus. Als die Juden, die aus dieser Gegend stammten, auch rausgehen wollten, haben sie die Polen nicht gelassen, weil man angeblich sie, die Christen, meine und nicht die Juden. Die Deutschen reagierten hierauf nicht. Es haben sich trotzdem wenige (3 bis 4) Juden heraus gestohlen, auf denen das jüdische Siegel nicht so deutlich war; die Mehrheit [S. 13] der Juden sind in der Zelle geblieben. Auch diese Gruppe aus der Łódźer Woiwodschaft wurden abgefertigt wie die vorherige aus Pommern.
Es blieben in dem Gebäude nur zivile Juden und Militärleute (Juden und Polen) übrig.
Nachdem die zwei Gruppen von Christen (die aus Pommern und Łódź) weggegangen waren, rief man die Juden auf den Hof und befahl, sich in Reihen à drei Personen aufzustellen. Dann meldete ein deutscher Offizier, dass wir die Küche putzen müssten, alles in Ordnung bringen müssten, die Betten herausbringen müssten und morgen früh, nachdem wir den obersten Stock gereinigt haben, würden wir nach Hause entlassen. Wir haben die Arbeit mit Freude ausgeführt.
Inzwischen war ein Leutnant mit einem Fotoapparat angekommen und befahl allen, sich in eine Reihe aufzustellen. Als sich alle eingereiht hatten, nahm er aus der Menge ein Dutzend Juden – “spezielle Typen” (er hat sogar gesagt: “Ich brauche typische Juden”). Unter ihnen waren die Juden mit Bart, im Alter von 65 bis 70, erschöpfte Juden, Dichtbehaarte und von den deutschen Schlägen am gestrigen Tag Verwundete etc. Unter ihnen waren auch Wieluńer Juden (ein Vater mit seinem Sohn) – der Vater mit einem Kaftan, 33langes Gewand, das in Osteuropa als traditionelles Kleidungsstück von Jüdinnen*Juden galt einer Jarmulke 44andere Bezeichnung für „Kippa“ und einem Siddur 55jüdisches Gebetsbuch unterm Arm, der 16-jährige Junge mit einem Kittel. Zwei Pabianicer (Ber Bir – ein Schneider, der aus Będzin stammte, aber in Pabianice wohnte, und Yisroel Khristovski – ein Weber; beide waren modern gekleidet, aber haben vor Erschöpfung und Schlägen schrecklich ausgesehen). Man hat sie fotografiert und danach alle schlafen geschickt.
Diese Nacht schliefen wir nicht in derselben Zelle wie in der vorherigen Nacht. Jene war nun bestimmt für polnische Kriegsgefangene.
In dieser Nacht haben wir eigentlich kaum geschlafen. In den Zimmern lagen die Haufen ziviler Kleidung, die die polnischen Soldaten beim Ankommen beim Militär dagelassen hatten, als sie ihre Uniformen bekamen. In einer der gegenüberliegenden Zellen saß eine Gruppe jüdischer Soldaten der polnischen Armee fest. Also fingen sie an, uns zu bitten, ihnen zivile Kleidung zu besorgen. Das haben wir wirklich getan. Das hat nicht länger als eine halbe Stunde gedauert, und schon waren sie als “Zivilisten” bei uns in der Zelle.
Um 7 Uhr morgens, am Freitag, den 22. September (der Vorabend von Yom Kippur), [S. 14] rief man uns aus der Zelle heraus und befahl, die Arbeit zu beenden, die wir gestern angefangen hatten. Von Zeit zu Zeit gaben sie uns neue Aufgaben dazu und sagten immerzu, dass wir sehr bald entlassen werden. Wir sind zum Feld gegangen, um nach Kartoffeln zu graben und Karotten zu ziehen.
Es dauerte bis 4 Uhr nachmittags. Essen haben wir den ganzen Tag nicht bekommen. Erst nach der Arbeit haben wir das Mittagsessen zusammen mit dem Abendbrot bekommen. Und wir sind wieder für die Nacht dageblieben.
Eine Gruppe von 20 Mann wurde während der Nacht zu der Arbeit im Krankenhaus genommen. Man hat sie dort brutalst geschlagen. Dabei wurde einem Łódźer gar nicht gut. Also wurde ein Befehl erlassen – auf das Foltern bei der Arbeit gibt es Todesstrafe. Für diese Gruppe hat sich so alles zum Guten geändert. Nach der Arbeit haben die Leute feines Essen bekommen.
Am Shabbatmorgen, den 23. September (Yom Kippur), kam ein Auto vom Roten Kreuz und nahm zehn Juden zu der Arbeit im Krankenhaus. Eine Stunde später kam das Auto vom Roten Kreuz wieder, da man noch weitere 15 Mann brauchte. Unter diesen 15 bin ich gewesen.
Während wir dort arbeiteten, sind jüdische Frauen aus Łowicz gekommen, deren Männer man in der Stadt für Arbeit geschnappt hatte, und erzählten, dass alle gefangenen Juden entlassen wurden.
Derweil hatte ich den Befehl bekommen, Wasser holen zu gehen. Als ich mit dem Eimer auf der Chaussee lief, bemerkte ich ein Brett mit der Aufschrift: “60 Kilometer bis Łódź”. Also habe ich den Eimer weggestellt und hab das Weite gesucht.
Nachdem ich sieben Kilometer gelaufen war (auf dem Weg nach Głowno), habe ich etliche polnische Bekannte aus Pabianice getroffen. Sie gaben mir Brot, ein wenig Geld, und einer von ihnen – ein Schneider – hat meinen Mantel repariert. Sie haben mir auch einen Bauern gezeigt, zu dem ich für die Nacht gehen könnte. Der Bauer hat mich in einer Scheune einquartiert.
Um 3 Uhr nachts habe ich mich aufgerafft und auf den Weg gemacht. Erst nach einigen Stunden Wanderung bin ich auf die Gruppe Juden gestoßen, die in Łowicz am Shabbatmorgen befreit worden waren. Sie nahmen mich in ihre Gruppe aber nicht auf, weil sie Angst hatten und bloß keine Unannehmlichkeiten haben wollten, [S. 15] da ich keinen Befreiungsschein hatte.
Um 7 Uhr morgens am Sonntag, den 24., erreichte ich Głowno. Die Straßen waren voll mit zerstörten Kutschen, Autos, private und militärische, Gepäck, Koffer, Beutel, Pelze, Mäntel und andere Kleidungsstücke. Auch Leichen und getötete Pferde gab es viele.
In Głowno habe ich nicht Halt gemacht. Das dortige Leben sah normal aus und die Stadt nicht stark beschädigt.
Ein Kilometer nach Głowno bemerkte ich einen Pabianicer, der auf einem Wagen fuhr. Er rief mich zu sich und nahm mich auf den Wagen, mit dem ich bis nach Stryków gefahren bin.
In Stryków habe ich gefrühstückt. Besondere Schäden habe ich dort nicht bemerkt.
Der Pabianicer mit dem Wagen blieb in Stryków, um sich auszuruhen. Weil ich in Eile war, nach Hause zu kommen, bin ich zu Fuß weiter.
Neun Kilometer vor Łódź traf ich einen Łódźer Kutscher, der drei christliche Passagiere hatte. Ich gab dem Kutscher ein Paket deutsche Zigaretten, und er nahm mich mit bis Łódź, wo ich um 11 Uhr morgens ankam.
Als ich von der Kutsche abstieg, warnten mich jüdische Frauchen, ich solle mich schnell verstecken, weil Juden für die Arbeit gefangen werden. Ich stieg direkt in die Tram Nr. 1, die auf den Straßen Brzezińska, Pabianicka, Kilińskiego, Napiórkowskiego bis zum Geyers Markt fährt. Dort bin ich in die Pabianicer Tram (von L.D.E.K.D.) eingestiegen und nach Hause nach Pabianice gefahren. Um 1 Uhr mittags bin ich zuhause angekommen.
In Pabianice blieb ich von Sonntag, den 24. September, bis Donnerstag, den 23. November 1939.
Am selben Tag noch habe ich mich mit Bekannten getroffen, die mir vom Treiben der Deutschen in Pabianice erzählten. Man warnte mich auch, ich sollte mich auf der Straße nicht zeigen, da die Deutschen Juden für die Arbeit fangen.
Wie man mir erzählte, haben die Deutschen in den ersten Tagen von Rosh Hashanah alle Juden aus ihren Häusern herausgeholt, sie gezwungen, die verschieden Schutzgräben, die man zur Zeit der Polen gegraben hatte, zuzuschütten. Man gab ihnen aber keine Arbeitsutensilien. [S. 16] Es war ein sehr regnerischer Tag und die Juden wurden gezwungen, mit den bloßen Händen im Schlamm zu graben.
Von der großen Masse an Juden suchte man zehn aus. Man stellte sie an die Wand der Kapelle (auf der Kaplitshner Straße) und befahl ihnen, schnell den Rabbi von Stadtsitz zu holen, sonst würden sie erschossen werden. Also rannten sie los und brachten den Rabbi Hershl Lebenhof. Die Deutschen folterten den Rabbiner fürchterlich: Zuerst haben sie ihn in eine Grube voll mit Wasser geworfen und den Juden, die arbeiteten, befohlen, ihn mit Sand zuzuschütten. Als er bis zur Hälfte mit Sand verschüttet war, haben die Menschen gefleht, dass man ihn rauslassen solle. Die Antwort kam sofort: Sie sollten ihn nicht ausgraben, sondern er solle allein herauskriechen. Mit Mühe und Not hat sich der Rabbiner ausgegraben. Nachdem er rausgekommen war, haben ihn die Deutschen geschlagen und gepeinigt, ihm den Bart abgeschoren.
Die zivilen Volksdeutschen dienten als Wegweiser und gaben den deutschen Militärleuten Hinweise. Sie halfen normalerweise beim Fangen für die Arbeit und zeigten den Deutschen, wer Juden sind, wo sie wohnen, wer reich ist etc. Ganz besonders hervorgetan in dieser Beziehung haben sich die folgenden Volksdeutschen:
Frayer – er war ein Wachmann in der Textilfabrik von dem Juden Elkhonen Heydakh. Dieser Frayer schnappte an Rosh Hashanah den Besitzer der Fabrik, bei dem er, Frayer, mit seinen drei Söhnen arbeitete (einer hieß Miesek – er war Ingenieur, und noch zwei – einer war Doktor und der andere ein Anwalt), zur Zwangsarbeit;
Kurtsmanovski – ein Webmeister in der Textilfabrik von dem Juden Mulke Tsolo (auf der Konstantynowska Straße);
Frank – besaß eigene Webstühle und stellte eigentlich Ware für den jüdischen Fabrikanten Feyvl Ber und Söhne her;
Krushel – ein Meister in der jüdischen Textilfirma “Peters” – Mariańska Straße 5–7.
Die Beziehung der Besatzer zu den Juden war sehr feindlich. In vielen jüdischen Firmen, in den größten, wurden Kommissare eingesetzt. Die Kommissare waren lokale Volksdeutsche. So wurde beispielsweise in die jüdische Textilfabrik von Feyvl Ber der einheimische Deutsche mit dem Namen Kvast (ein Kassierer in der deutschen Färberei “Dobrzenka”) als Kommissar eingesetzt; in die jüdische Manufakturfirma von Yankev [S. 17] Poznanski wurde ein Bruder des schon genannten Kvast eingesetzt; und in die Manufakturfirma von Frau R. Shtokvenski wurde der Deutsche Heynik (er war in dieser Firma der Buchhalter gewesen) eingesetzt.
Man raubte viele jüdische Geschäfte aus. Ich weiß von folgenden Firmen: Herman Grinshteyn (Piotr Skargo Straße 33, ehemals Tushner Straße), Moyshe Pukat und Alter Grinshteyn (Kościelna Straße 9) und andere. Die Ware wurde üblicherweise auf Autos geladen und in eine unbekannte Richtung geschickt.
In die Manufakturfirma von Leybush Tsyekhanovski und Koyfman Yelinovitsh kam eine polnische Frau hinein, um etwas zu kaufen, konnte sich aber nicht auf einen Preis einigen. Sie ging dann raus, rief deutsche Gendarmen zu sich und erzählte ihnen, dass die Juden sich weigerten, Ware zu verkaufen, weil die Russen bald einmarschieren. Die Deutschen schossen daraufhin etliche Male im Geschäft in die Luft und nahmen Leybush Tsyekhanovski und seinen Sohn Sheye fest. Man führte sie in den Arrest. Man hat sie dort sehr stark geschlagen. Nach zwei Tagen im Arrest hat man den alten Tsyekhanovski in einem hoffnunglosen Zustand ins Krankenhaus überführt.
Am 15. November wurden in den Straßen von der jüdischen Gemeinde Meldungen auf Deutsch mit dem folgenden Inhalt plakatiert: Der Kaliszer Landrat hat eine Verordnung veröffentlicht, dass Juden das jüdische gelbe Abzeichen auf dem rechten Arm tragen müssen – 10 Zentimeter breit. Juden ist es erlaubt, auf der Straße von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr abends zu sein; nach 5 Uhr ist es Juden, die im gleichen Haus leben, verboten, ihre Nachbarn zu besuchen – man muss in seiner eigener Wohnung sein; wen auch immer man in einem fremden Haus finde, der wird erschossen. 66Deutsche Militärbehörden im besetzten Polen begannen im Herbst 1939 damit, Jüdinnen*Juden Ausgangssperren aufzuerlegen und sie zu zwingen, sich mit gelben Abzeichen auf dem rechten Arm kenntlich zu machen. Diese Anweisung in einzelnen Gebieten des besetzten Polens ging dem allgemeinen Befehl zum Tragen des ‚Judensterns‘ im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten ab 01. September 1941 voraus.
Am Shabbat, den 18. November, am ersten Tag des Tragens des gelben Zeichens, hat man von früh morgens an sehr viele Juden auf den Straßen gesehen – mehr als gewöhnlich. Es war eine Art Demonstration: Seht, wir schämen uns nicht dafür, dass wir Juden sind.
An diesem Tag, am Shabbatmorgen, hat man in der Ruine der altstädtischen Synagoge (auf der Synagogengasse [Bóźniczna] 4) einen toten zivilen Deutschen gefunden. In der Stadt kam es zu Unruhen, weil man dachte, dass man nun mit den Juden abrechnen würde. Die Juden nahmen den Toten aus der Synagoge raus und haben ihn ins Krankenhaus getragen. Dort wurde festgestellt, dass er sich mit Spiritus vergiftet hat. Man hat in den [S. 18] Kleidungsstücken des Toten eine nicht ausgetrunkene Flasche Spiritus gefunden. Die Juden haben schon freier aufgeatmet.
Vertreter der jüdischen Gesellschaft gegenüber den deutschen Autoritäten war die durch die Deutschen nominierte jüdische Gemeindeversammlung. Die Bestimmten waren: der Anwalt Shapiro, der Anwalt Yitskhok Alter, der Referendar Lolek Urbakh, Shmelke Shteynhorn (Händler), Volf Velinovitsh (ehemaliger Expedient der Firma Krushe-Ende) und Kaplan. Sie mussten jeden Tag 50 Juden für die Arbeit zur Verfügung stellen. Wenn die Zahl verfehlt wurde, wurden diese Ratsmänner selber für die Arbeit herangezogen. Sie intervenierten auch regelmäßig bei den Autoritäten gegen verschiedene Erlasse.
Die Deutschen änderten die Namen einiger Straßen: Der Kościelna haben sie den Namen Kirchenstraße gegeben; Kapliczna – Kapellenstraße. Die Piłsudski Straße nannten sie Adolf Hitler Straße. Den Namen der Stadt insgesamt änderten die Deutschen von Pabianice auf Burgstadt (es gab dort ein Schloss von Königen Yangella und Yadviga).
Bevor ich Pabianice verlassen habe, gingen deutsche Gendarmen von einem jüdischen Haus zum nächsten und notierten die Einwohnerzahl. Es verbreitete sich deswegen das Gerücht, dass man die Juden aus der Stadt deportieren wird. So machte sich eine Delegation von Juden auf (Sheye Alter, Shmelke Shteynhorn und der Anwalt Shapiro), um den Erlass zu stoppen. Sie haben erreicht, dass die Juden bleiben können, wenn sie eine Abgabe von 3000 Zlotys einzahlen. Währenddessen wurde ein Teil der Stadt markiert, wo Juden wohnten – von der Warszawska Straße 25 bis 40 und von der Synagogengasse [Bóźniczna Straße] 2 bis 14 – und es wurde bekanntgegeben, dass Juden ab sofort dort nicht mehr leben durften. Diesen Teil hat man für die Deutschen aus den baltischen Ländern reserviert.
Am Tag meiner Abfuhr sind die Juden aus diesen Straßen ausgezogen. Ich persönlich habe einem meiner Verwandten geholfen, von der Warszawska Straße 37 in die Kapliczna Straße 9 umzuziehen.
Ich habe Pabianice am Donnerstag, den 23. November, verlassen.
Gefahren bin ich mit der Tram nach Łódź. Auf dem Bahnhof in Łódź hat man Juden keine Tickets verkauft. Also bin ich mit einem Wagen nach Stryków gefahren. Hinter Łódź habe ich das gelbe Zeichen abgenommen – dort musste man es schon [S. 19] nicht mehr tragen. In Stryków haben uns (sieben Juden) die Deutschen nackt ausgezogen und durchsucht. Man hat uns nichts weggenommen. Wir haben Fahrscheine für die Bahn nach Warschau bekommen.
Der Zug hat sich sehr langsam bewegt. Wir haben Stryków um 9 Uhr abends verlassen und kamen um 3 Uhr nachts in Łowicz an. In Łowicz hat man uns aus der Bahn genommen und in einem Gebäude festgesetzt. Dort hielt man uns fest bis 2 Uhr nachmittags. Dann sind wir weiter nach Warschau gefahren.
Von Warschau aus bin ich nach Małkinia gefahren. Mit dem Zug sind um die 5000 Juden gefahren, alle zu der russischen Grenze. In Małkinia befahl man allen Juden, auszusteigen, trieb und jagte sie, und setzte sie in einem Hof mit einem hölzernen Zaun fest. Von dem Druck der Menschenmasse ist der Zaun gebrochen. Dann fingen die Deutschen an, die Juden brutal zu schlagen und befahlen ihnen, in zehn Minuten den Zaun wieder aufzustellen.
Danach führte man alle Mann zu der Grenze. Männer in einer Gruppe separat von den Frauen. Vor der Grenze führte man uns alle in einen Hof und befahl allen Männern, die Hände zu heben. Man hat uns in dieser Pose fotografiert. Danach führte man alle zu der Durchsuchung. Man hörte ein schreckliches Geschrei. Dort befahl man den Juden, sich nackt auszuziehen. Man hat nach verstecktem Geld, Schmuck etc. gesucht. Die Frauen waren nicht dort. Wir trafen sie auf der anderen Seite. Die Frauen haben erzählt, dass auch sie eine schreckliche Durchsuchung durchmachen mussten – man hat bei den Frauen sogar in den Geschlechtsorganen gesucht.
Bei der Grenze trafen wir auf sehr viele Juden, die dort schon fünf bis sechs Tage verharrten. Es war unheimlich schwer, die Grenze zu überqueren. Die Sowjets haben Grenzüberquerungen nicht erlaubt. Letztlich ist es mir gelungen, die Grenze zu überqueren. Dann sind wir durch Białystok nach … gekommen.
Unterschrieben von: Chaim-Leyb D.
Fußnoten
1Abkürzung für Polska Partia Socjalistyczna, Polnische Sozialistische Partei
6Deutsche Militärbehörden im besetzten Polen begannen im Herbst 1939 damit, Jüdinnen*Juden Ausgangssperren aufzuerlegen und sie zu zwingen, sich mit gelben Abzeichen auf dem rechten Arm kenntlich zu machen. Diese Anweisung in einzelnen Gebieten des besetzten Polens ging dem allgemeinen Befehl zum Tragen des ‚Judensterns‘ im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten ab 01. September 1941 voraus.
Chaim-Leyb D. wurde am 21. Dezember 1939 vom „Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939“ im litauischen Vilnius interviewt. Er war 21 Jahre alt und stammte aus dem polnischen Pabianice, einem Vorort von Łódź, wo er als Monteur von Webstühlen arbeitete. Nach dem deutschen Angriff auf Polen floh er mit fast der gesamten Stadtbevölkerung zunächst zu Fuß nach Warschau, wo er die Zeit vor der deutschen Besatzung und die Versuche, die Stadt zu verteidigen, erlebte und unterstützte. Er erzählt unter anderem von der Rolle, die der Bund, eine von 1897 bis 1935 in Osteuropa aktive jüdische Arbeiterbewegung, dabei spielten. Auch Herman Kruk war Bund-Aktivist in Warschau und berichtet von seiner verworrenen Flucht aus der Stadt.
Nach mehreren längeren Festnahmen bei seinen Weiterfluchtversuchen durch das chaotische besetzte Polen, während derer Chaim-Leyb D. unter Hunger, Gewalt und Zwangsarbeit litt, entschied er sich, in seinen Heimatort zurückzukehren, nur um sich dort aufgrund des brutalen antisemitischen deutschen Besatzungsregimes für eine erneute Flucht Richtung Osten zu entscheiden, die in Vilnius endete.
Insgesamt legte Chaim-Leyb D. über 5000 Kilometer, meist zu Fuß, zurück. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Sein Bericht wurde im Film „Flucht durch Polen“ verarbeitet, welcher im Rahmen des We Refugees Archiv Projekts entstand.
Komitet tsu zamlen materialn vegn yidishn khurbn in Poyln 1939 (Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939)
Wiener Library Document Section 532, Series 1, frames 0013–0