Rivke Zilberg: Die geliehene Welt

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Ankommen, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.

In diesem Auszug aus dem Tagebuch beschreibt Rivke, ihre Abhängigkeit als Geflüchtete von ihrer Verwandschaft in New York und das Gefühl von Almosen zu leben.

 

Gleise an der Water Street, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

February 14, 1940

A Borrowed World

Living on charity is a bitter fate. Selma doesn’t look at me at all, and my aunt has become hard and stiff. She does speak to me, but it’s as if she has some complaint. I don’t refuse any kind of work. I clean Marvin’s shoes, and I prepare the vegetables for dinner even before I’m asked. Still, it’s as if the whole household has something against me. At night I even dream that I am in the middle of the room and all of them are standing around me and yelling, „Get out of this house. Get out!“ Selma’s double chin looks as swollen as cow’s udder. These dreams are silly, and when I awake, my heart aches, but I am happy to see that it is all a dream. Because where would I go?

My aunt must have said something to Mrs. Shore because when I met her on the staircase, it seemd like she had been waiting for me. She put her arm around my waist and invited me into her apartment, where she sat me down on the couch and made it clear that she wanted to talk to me about something very important.

On the wall opposite me, I saw a picture of a Turkish princess with a crown on her head surrounded by attedants who sat at her feet and handed her fruit. Mrs. Shore gave me some chewing gum and took a cigarette for herself. Then she said:“Listen, Rivke, in America, your best friend is the dollar, and you’re your own closest relative. Why do you need to sit in your aunt’s house? Selma is a girl; you’re a girl. Two cats in one sack can’t be good. It would be better for you to find work, and then you could have your own money and the whole world would be open to you.“

I listened and felt my heart hammering. Where should I go look for work? What kind of work? I thought that if Mrs.Shore had invited me into her apartment so she could talk to me, she probably knew what she was talking about. I suddenly felt as if I were living on borrowed time. I was borrowing Mrs. Shore’s couch to sit for a while. I was borrowing my bed for a few nights. Even the stairs were borrowed so that I could go up and down a few times until I could go down without returning back up. Borrowed time is just as awful as a borrowed dress or shoes. It’s not yours and has to be returned. Where on earth will I be able to find permanence? Where should I go? I don’t know how long I sat with my head bowed. I didn’t even notice when Mrs. Shore went into the kitchen and brought us coffee and kookees. She lifted my head up and said: „Don’t worry; there’s a big world out there.“

 

 

New Yorker Stadtteil Manhattan 1931 via Wikimedia
New Yorker Stadtteil Manhattan 1931 via Wikimedia

 

Februar 14, 1940

Eine geliehene Welt

Von Almosen zu leben ist ein bitteres Schicksal. Selma sieht mich überhaupt nicht mehr an, und meine Tante ist hart und steif geworden. Sie spricht zwar mit mir, aber es ist, als ob sie eine Beschwerde hätte. Ich weigere mich nicht, irgendeine Arbeit anzunehmen. Ich putze Marvins Schuhe und bereite das Gemüse für das Abendessen vor, noch bevor ich darum gebeten werde. Trotzdem ist es so, als ob der ganze Haushalt etwas gegen mich hat. Nachts träume ich sogar, dass ich mitten im Zimmer stehe und alle um mich herumstehen und schreien: „Raus aus diesem Haus. Raus!“ Selmas Doppelkinn sieht so geschwollen aus wie ein Kuheuter. Diese Träume sind albern, und wenn ich aufwache, tut mir das Herz weh, aber ich bin froh, dass das alles nur ein Traum ist. Denn wohin sollte ich gehen?

Meine Tante muss etwas zu Mrs. Shore gesagt haben, denn als ich ihr auf der Treppe begegnete, schien es, als hätte sie auf mich gewartet. Sie legte ihren Arm um meine Taille und lud mich in ihre Wohnung ein, wo sie mich auf die Couch setzte und mir zu verstehen gab, dass sie mit mir über etwas sehr Wichtiges sprechen wollte.

An der Wand mir gegenüber sah ich das Bild einer türkischen Prinzessin mit einer Krone auf dem Kopf, umgeben von Dienern, die ihr zu Füßen saßen und ihr Obst reichten. Frau Shore gab mir einen Kaugummi und nahm sich selbst eine Zigarette. Dann sagte sie: „Hör zu, Rivke, in Amerika ist der Dollar dein bester Freund, und du bist dein eigener engster Verwandter. Warum musst du im Haus deiner Tante sitzen? Selma ist ein Mädchen, du bist ein Mädchen. Zwei Katzen in einem Sack können nicht gut sein. Es wäre besser für dich, wenn du Arbeit finden würdest, dann hättest du dein eigenes Geld und die ganze Welt stünde dir offen.“

Ich hörte zu und spürte mein Herz hämmern. Wo sollte ich nach Arbeit suchen? Welche Art von Arbeit? Ich dachte, wenn Mrs. Shore mich in ihre Wohnung eingeladen hatte, um mit mir zu reden, dann wusste sie wahrscheinlich, wovon sie sprach. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich auf die Zeit lebe. Ich lieh mir Mrs. Shores Couch, um eine Weile zu sitzen. Ich lieh mir mein Bett für ein paar Nächte aus. Sogar die Treppe war geliehen, damit ich ein paar Mal hinauf- und hinuntergehen konnte, bis ich hinuntergehen konnte, ohne wieder hinaufzugehen. Geliehene Zeit ist genauso schrecklich wie ein geliehenes Kleid oder geliehene Schuhe. Sie gehört nicht dir und muss zurückgegeben werden. Wo in aller Welt werde ich Dauerhaftigkeit finden können? Wohin soll ich gehen? Ich weiß nicht, wie lange ich mit gesenktem Kopf dasaß. Ich habe nicht einmal bemerkt, als Mrs. Shore in die Küche ging und uns Kaffee und Kekse brachte. Sie hob meinen Kopf hoch und sagte: „Mach dir keine Sorgen, da draußen ist eine große Welt.“

Die Autorin des Romanes „A Jewish Refugee in New York“ Kadya Molodowsky  ist eine der wichtigsten jiddischen Dichterinnen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1894 in Bereza Kartuska, Russisches Kaiserreich geboren. Ihre Lebensetappen spiegeln typische Routen der jüdischen Migration des 20. Jahrhunderts wider: Odessa, Kyjiw, Warschaw, New York, Tel Aviv. Im Laufe des Lebens war sie als Lehrerin, Herausgeberin, Dichterin, Kritikerin, Dramatikerin und Schriftstellerin tätig. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, arbeitete sie in einem Tagesheim für geflüchtete jüdische Kinder, das von ihrem Lehrer in Warschau geführt wurde. Diese Arbeit führte sie bis 1917 an verschiedenen Orten fort. Später zog sie nach Odessa, um der Kriegsfront zu entkommen, und lehrte dort in einem Kindergarten. 1917 konnte sie nach der Oktoberrevolution nicht zu ihren Eltern zurückkehren, und blieb so in Kyjiw, wo sie wieder eine Arbeit als Erzieherin annahm. Als sie 1920 das Pogrom in Kyjiw überlebte, veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht.

1935 zog sie nach New York, wo sie ihr Buch „In Land fun Mayn Gebayn“ („Im Lande meiner Knochen“) veröffentlichte. Darin thematisiert sie in fragmenthaften Gedichten die Internalisierung des Exils. Ab diesem Zeitpunkt blühte ihre Arbeit in New York.

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Ankommen, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.

Kadya Molodovsky (übersetzt von Anita Norich), 2019: Jewish Refugee in New York. A Novel by Kadya Molodovsky. Bloomington: Indiana University Press, S. 13.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche © Minor.