Rivke Zilberg: Lublin existiert noch

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Ankommen, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.

In diesem Auszug aus dem Tagebuch stellt Rivke ihre Reflexionen zu den Themen: Heimat, Familie und Hoffnung dar.

New York bei Nacht, 1946,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

February 2, 1940

Lublin still Exists

Lublin still exists! I received a postcard from my father today. He’s alive, and so is my brother. He didn’t say anything about my mother, and even though I knew her fate, I was still heartbroken that there was no word about her. But Lublin is still there. The city, my home, the woods still exist. There was no word about Layzer either, and I don’t know what’s become of him. I try not to think about it. What is there to think about? I’ll probably never see him again, but I’d still like to know if he’s alive. Today, it didn’t even bother me when Marvin once again left his shoes near my bed. What do I care? The postcard arrived first thing in the morning, so I polished Marvin’s shoes. As long as there is once again a city, a sign of home, then my world still exists and someday I’ll get rid of Marvin’s shoes.

It’s Friday and my aunt made gefilte fish and baked kookees. Here, Friday night has more of the feel of Shaboos than the Sabbath day itself. Later in the evening, they play cards, but first my aunt lights the Sabbath candles. She’s worried about Selma tonight. Selma isn’t well and needs operation. She’s worried too. It seems that everyone is afraid when it comes to their own lives. And what about my mother? The postcard said nothing about her. I would have wanted to at least see her resting place and read her name on a tombstone.

 

New Yorker Stadtteil Manhattan 1931 via Wikimedia
New Yorker Stadtteil Manhattan 1931 via Wikimedia

2. Februar, 1940

Lublin existiert noch

Lublin existiert noch! Ich habe heute eine Postkarte von meinem Vater erhalten. Er lebt noch, und mein Bruder auch. Er sagte nichts über meine Mutter, und obwohl ich ihr Schicksal kannte, war ich untröstlich, dass kein Wort über sie gesagt wurde. Aber Lublin ist immer noch da. Die Stadt, mein Haus und der Wald sind noch da. Auch von Layzer hat man nichts gehört, und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich versuche, nicht daran zu denken. Was gibt es da zu denken? Ich werde ihn wahrscheinlich nie wieder sehen, aber ich würde trotzdem gerne wissen, ob er noch lebt. Heute hat es mich nicht einmal gestört, als Marvin wieder einmal seine Schuhe neben meinem Bett abgestellt hat. Was kümmert es mich? Die Postkarte kam gleich am Morgen, also habe ich Marvins Schuhe geputzt. Solange es eine Stadt gibt, ein Zeichen von Heimat, solange existiert meine Welt noch und irgendwann werde ich Marvins Schuhe loswerden.

Es ist Freitag und meine Tante hat gefilte Fisch und baked kookees gemacht. Hier hat der Freitagabend mehr mit Schaboos zu tun als mit dem Sabbat selbst. Später am Abend spielen sie Karten, aber zuerst zündet meine Tante die Sabbatkerzen an. Sie macht sich heute Abend Sorgen um Selma. Selma geht es nicht gut und sie muss operiert werden. Sie ist auch besorgt. Es scheint, dass jeder Angst hat, wenn es um sein eigenes Leben geht. Und was ist mit meiner Mutter? Auf der Postkarte stand nichts über sie. Ich hätte wenigstens ihre Ruhestätte sehen und ihren Namen auf einem Grabstein lesen wollen.

 

Die Autorin des Romanes „A Jewish Refugee in New York“ Kadya Molodowsky  ist eine der wichtigsten jiddischen Dichterinnen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1894 in Bereza Kartuska, Russisches Kaiserreich geboren. Ihre Lebensetappen spiegeln typische Routen der jüdischen Migration des 20. Jahrhunderts wider: Odessa, Kyjiw, Warschaw, New York, Tel Aviv. Im Laufe des Lebens war sie als Lehrerin, Herausgeberin, Dichterin, Kritikerin, Dramatikerin und Schriftstellerin tätig. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, arbeitete sie in einem Tagesheim für geflüchtete jüdische Kinder, das von ihrem Lehrer in Warschau geführt wurde. Diese Arbeit führte sie bis 1917 an verschiedenen Orten fort. Später zog sie nach Odessa, um der Kriegsfront zu entkommen, und arbeitete dort in einem Kindergarten. 1917 konnte sie nach der Oktoberrevolution nicht zu ihren Eltern zurückkehren, und blieb so in Kyjiw, wo sie wieder eine Arbeit als Erzieherin annahm. Als sie 1920 das Pogrom in Kyjiw überlebte, veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht.

1935 zog sie nach New York, wo sie ihr Buch „In Land fun Mayn Gebayn“ („Im Lande meiner Knochen“) veröffentlichte. Darin thematisiert sie in fragmenthaften Gedichten die Internalisierung des Exils.

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Ankommen, Einsamkeit, Holocaust, Integration und mehr.

 

Kadya Molodovsky (übersetzt von Anita Norich), 2019: A Jewish Refugee in New York. A novel by Kadya Molodovsky. Bloomington: Indiana University Press; Translation edition, S. 9.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche © Minor.