Rivke Zilbergs erster Dollar in New York

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Ankommen, Holocaust, Integrationsbemühungen und mehr.

In diesem Auszug aus dem Tagebuch stellt Rivke die schwierige Lage als Geflüchtete in Amerika dar, ohne oder mit wenig Sprachkenntnissen eine Arbeit zu finden.

Ladenbesitzer, 1946, New York,
fotografiert von Fred Stein, mit
freundlicher Genehmigung von
Peter Stein © Fred Stein Archiv

Wednesday, March 5, 1940

My first Dollar

The fact that I cry at every turn is such a misfortune. My uncle brought me a box of stockings today. He had gone of his customers where there was a great sale on stockings, so he bought three boxes: one for my aunt, one for Selma, and one for me. What is there to cry about? Selma glanced at the socks and said, „Thanks, Pa!“ My aunt clutched her head because he had spent so much money on stockings. „A stocking-fair,“ she yelled. „Three boxes! Thank goodness there wasn’t a sale on wives. Abetche (I bet) you would have brought half a dozen women home with you.“ When my uncle gave my my box of stockings and I wanted to thank him, I got all chocked up, and tears came into my eyes.

In the evening, Red came, and my aunt told him that I already have a dzhob collecting pieces in Rubins‘ factory but that I need to know English. Red immediately started teaching me what I need to know for my job. „Kom ove‘ heyer“-„Come here“ he said in a combination of English and his weak Yiddish. „Don‘ bee layzee,“ he continued. „Tayk eet eezee,“ and so on. In the middle of the „lesson“ Eddie came in. They both started to teach me how to spell. I sat with a piece of paper and a penciland each of my rabbis on either side of me. „A real cheder“ my aunt joked. But Selma was out of sorts. „Dat’s fooleesh“ she said. I konw that when Selma says something is foolish is means that she’s angry. But what can I do if they both really want to quickly and with great energy, announcing that he had found me a dzshob.

„A dzshob?“ everyone shouted at once. „Yeah, a dzshob. For now, just one night. The laundryman caught a cold in his back, and he’s in bed. His wife needs to send laundry to the customers tomorrow and her packages need to be bundled up. Come, Greenhorn! I’ll take you to her, and you’ll earn a dollar and a half. Here, as soon you earn your first dollar, you’re an American; you’re practically a seeteezen.“ I grabbed my coat and went with Mendl Pushcart to the laundress to earn my first dollar in America and become a citizen. „Here’s the greenhorn“ Mendl said, introducing me. The minute we got to the door, he left to go back and play pinochle with my aunt and Mrs. Shore.

The laundress taught me how to tie up the packages and what to write on them. Count the sheertz and write down a figer. Count the tawvelz and write a figer. Overnight I learned the meaning of shirts, towels, sheets, and more. The laundress ironed, and I tied the packages and wrote numbers on them. At first, she was silent, showing me how to fold the shirts around cardboard so they remained starched, without wrinkles. „Don’t make creases“, she said. „A crease is worse than anything for these people. A crease is black mark in the laundry business.“ After a few hours, when it was already the middle of the night, she began to talk. At home in Europe she had studien to be a dentist and was already „practicing“ as a student in Shimonovski’s School of Dentistry in Warsaw. And here in America she had become a lawndreelaydee, ironing underwear and wasting her life. She ended her story of the past thirty years and quietly sang a familiar Russian song about a fast-moving troika.

I came home at dawn. My aunt opened the door and asked, „So, have you become a citizen?“ I showed her the three silver half dollars that the laundress had given me.“Set aside one coin“ my aunt said. „People say that the first silver coin you earn is a good luck charm.“ When I went to sleep, I remembered Mendl Pushcart and thought that he wasn’t so bad after all. He was right. I really did feel like a „citizien“ this morning when I earned my first American dollar.

 

 

New Yorker Stadtteil Manhattan 1931 via Wikimedia
New Yorker Stadtteil Manhattan 1931 via Wikimedia

Mittwoch, 5. März, 1940

Mein erster Dollar

Die Tatsache, dass ich bei jeder Gelegenheit weine, ist ein Unglück. Mein Onkel hat mir heute eine Schachtel mit Strümpfen gebracht. Er war bei einem seiner Kunden, bei dem es einen großen Ausverkauf an Strümpfen gab, und so hat er drei Schachteln gekauft: eine für meine Tante, eine für Selma und eine für mich. Was gibt es da zu weinen? Selma warf einen Blick auf die Socken und sagte: „Danke, Papa!“ Meine Tante fasste sich an den Kopf, weil er so viel Geld für Strümpfe ausgegeben hatte. „Eine Strumpfmesse“, rief sie. „Drei Kisten! Gott sei Dank gab es keinen Ausverkauf von Frauen. Abetche (ich wette), du hättest ein halbes Dutzend Frauen mit nach Hause gebracht.“ Als mein Onkel mir die Schachtel mit den Strümpfen schenkte und ich mich bei ihm bedanken wollte, wurde ich ganz verlegen, und mir stiegen die Tränen in die Augen.

Am Abend kam Red, und meine Tante erzählte ihm, dass ich bereits einen Dzhob habe, der in der Fabrik von Rubins Stücke sammelt, dass ich aber Englisch können muss. Red fing sofort an, mir das beizubringen, was ich für meinen Job wissen musste. „Kom ove‘ heyer“ – „Komm her“, sagte er in einer Kombination aus Englisch und seinem schwachen Jiddisch. „Don‘ be layzee“, fuhr er fort. „Tayk eet eezee“, und so weiter. Mitten in der „Lektion“ kam Eddie herein. Sie begannen beide, mir das Buchstabieren beizubringen. Ich saß mit einem Blatt Papier und einem Bleistift und jedem meiner Rabbiner auf einer Seite. „Ein richtiger Kindergarten“, scherzte meine Tante. Aber Selma war nicht ganz bei Trost. „Dat’s fooleesh“, sagte sie. Ich weiß, wenn Selma sagt, dass etwas dumm ist, bedeutet das, dass sie wütend ist. Aber was kann ich tun, wenn die beiden wirklich schnell und mit großer Energie verkünden wollen, dass er einen Dzshob für mich gefunden hat.

„Ein Dzshob?“, riefen alle auf einmal. „Ja, ein Dzshob. Vorerst nur für eine Nacht. Der Wäscher hat sich den Rücken erkältet und liegt im Bett. Seine Frau muss morgen Wäsche zu den Kunden schicken und ihre Pakete müssen gebündelt werden. Komm, Grünschnabel! Ich bringe dich zu ihr, und du verdienst anderthalb Dollar. Sobald du hier deinen ersten Dollar verdienst, bist du die Amerikanerin; du bist praktisch eine Seeteezen.“ Ich schnappte mir meinen Mantel und ging mit Mendl Pushcart zur Wäscherin, um meinen ersten Dollar in Amerika zu verdienen und die Bürgerin zu werden. „Hier ist ein Grünschnabel“, sagte Mendl und stellte mich vor. Kaum waren wir an der Tür, ging er zurück, um mit meiner Tante und Frau Shore Pinochle zu spielen.

Die Wäscherin hat mir beigebracht, wie man die Pakete verschnürt und was man darauf schreibt. Zähle die sheertz und schreibe einen figer auf. Zähle die tawvelz und schreibe einen figer. Über Nacht lernte ich die Bedeutung von Hemden, Handtüchern, Laken und vielem mehr. Die Wäscherin bügelte, und ich schnürte die Pakete und schrieb Nummern darauf. Zuerst war sie schweigsam und zeigte mir, wie ich die Hemden um einen Karton falten musste, damit sie gestärkt und faltenfrei blieben. „Mach keine Falten“, sagte sie. „Eine Falte ist für diese Leute schlimmer als alles andere. Eine Falte ist ein schwarzer Fleck im Wäschereigeschäft.“ Nach ein paar Stunden, als es schon mitten in der Nacht war, begann sie zu erzählen. Zu Hause in Europa hatte sie eine Ausbildung zur Zahnärztin gemacht und „praktizierte“ bereits als Studentin an der Shimonovski Hochschule für Zahnmedizin in Warschau. Und hier in Amerika war sie eine lawndreelaydee geworden, bügelte Unterwäsche und verschwendete ihr Leben. Sie beendete ihre Erzählung über die vergangenen dreißig Jahre und sang leise ein bekanntes russisches Lied über eine sich schnell bewegende Troika.

Ich kam im Morgengrauen nach Hause. Meine Tante öffnete die Tür und fragte: „Bist du jetzt eine Bürgerin geworden?“ Ich zeigte ihr die drei silbernen Halbdollar, die mir die Wäscherin gegeben hatte. „Leg eine Münze beiseite“, sagte meine Tante. „Man sagt, dass die erste Silbermünze, die man verdient, ein Glücksbringer ist. Als ich einschlief, erinnerte ich mich an Mendl Puschcart und dachte, dass er doch nicht so schlecht war. Er hatte Recht. Ich fühlte mich heute Morgen wirklich wie eine „Bürgerin“, als ich meinen ersten amerikanischen Dollar verdiente.

Die Autorin des Romanes „A Jewish Refugee in New York“ Kadya Molodowsky  ist eine der wichtigsten jiddischen Dichterinnen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1894 in Bereza Kartuska, Russisches Kaiserreich geboren. Ihre Lebensetappen spiegeln  typische Routen der jüdischen Migration des 20. Jahrhunderts wieder: Odessa, Kyjiw, Warschaw, New York, Tel Aviv. Im Laufe des Lebens war sie als Lehrerin, Herausgeberin, Dichterin, Kritikerin, Dramatikerin und Schriftstellerin tätig. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, arbeitete sie in einem Tagesheim für geflüchtete jüdische Kinder, das von ihrem Lehrer in Warschau geführt wurde. Diese Arbeit führte sie bis 1917 an verschiedenen Orten fort. Später zog sie nach Odessa, um der Kriegsfront zu entkommen, und lehrte dort in einem Kindergarten. 1917 konnte sie nach der Oktoberrevolution nicht zu ihren Eltern zurückkehren, und blieb so in Kyjiw, wo sie wieder eine Arbeit als Erzieherin annahm. Als sie 1920 das Pogrom in Kyjiw überlebte, veröffentlichte sie ihr erstes Gedicht.

1935 zog sie nach New York, wo sie ihr Buch „In Land fun Mayn Gebayn“ („Im Lande meiner Knochen“) veröffentlichte. Darin thematisiert sie in fragmenthaften Gedichten die Internalisierung des Exils. Ab diesem Zeitpunkt blühte ihre Arbeit in New York.

In ihrem Werk „A Jewish Refugee in New York“ stellt Kadya Molodowsky das Leben der zwanzigjährigen Geflüchteten Rivke Zilberg aus Lublin in New York in Form eines Tagebuches dar. Rivke Zilbergs Erfahrungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal von Molodovsky. Das Tagebuch umfasst solche Themen wie: Flucht, Ankommen Holocaust, Integrationsbemühungen und mehr.

Kadya Molodovsky (übersetzt von Anita Norich), 2019: A Jewish Refugee in New York. Bloomington: Indiana University Press, S. 28-29.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche © Minor.