Als im Januar 1943 das Essay „We Refugees“ veröffentlicht wurde, hatte Hannah Arendt mehrere Jahre der Flucht vor den Nationalsozialisten hinter sich, einschließlich einer kurzzeitigen Internierung durch die Gestapo 1933 sowie als „feindliche Ausländerin“ im südfranzösischen Lager Gurs 1940. So stellt sie sich in „We Refugees“ der Problematik Flucht und Staatenlosigkeit auf eine nicht nur analytische, sondern auch persönliche Weise. Sie bringt ihre Erfahrung als eine von vielen Jüdinnen*Juden ein, denen dort, wo sie Zuflucht suchten, lange nicht Anerkennung und Rechte als Teilhabende an der Gesellschaft gewährt wurden. Die Analysen, die Arendt über Flucht und Rechtlosigkeit auch aus dieser eigenen Erfahrung der jahrelangen Staatenlosigkeit auch in anderen Schriften entwickelt hat, sind bis heute für viele Fluchtbiografien relevant und zutreffend.
Die Krise der Menschenrechte in einer nationalstaatlich organisierten Welt
„Staatenlosigkeit in Massendimensionen hat die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen.“
Das Paradigma der universellen Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen von Natur aus bestimmte Rechte haben. Arendt diagnostiziert, dass die universellen Menschenrechte nicht umsetzbar sind in einer nationalstaatlich organisierten Welt. Denn sobald Menschen wirklich auf „die abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins“ zurückgeworfen sind, nicht einem Staat zugehörig oder durch diese Zugehörigkeit geschützt sind – garantiert ihnen keine Institution mehr die Wahrung ihrer Rechte und ihrer Menschlichkeit.
Obwohl die Menschenrechte zum wesentlichen Paradigma einer als modernen, säkular und globalisiert bezeichneten Gemeinschaft geworden sind und durch internationale Abkommen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen oder die Genfer Flüchtlingskonvention bindend werden sollten , besteht das von Arendt analysierte Problem auch heute noch: an abgeschotteten Grenzen, an einer Europäischen Union, die sich nicht über die Aufnahme Geflüchteter einig werden kann und Boote auf dem Mittelmeer vor ihren Grenzen untergehen oder ausharren lässt; an erstarkenden rechtspopulistischen Kräften, die gegen Einwanderung mobilisieren, oder an langen Asylverfahren, die Menschen in einer prekären Lebenslage feststecken lassen.
Die Diskrepanz zwischen dem Ideal und der Umsetzung ist unübersehbar. Denn das Beharren der Nationalstaaten auf ihrer Souveränität und Exklusivität (und der vermeintlich davon abhängige Schutz der ‚eigenen Bürger*innen‘) wird immer wieder über die universellen Menschenrechte gestellt. Die Betroffenen dieses Dilemmas sind keine unglücklichen Ausnahmen, sondern so viele, dass sie eine Krise der internationalen Gemeinschaft auslösen und ihre Regeln grundsätzlich infrage stellen. Von Staatenlosigkeit sind heute weltweit schätzungsweise 10 Millionen Menschen betroffen, von denen nur 4,2 Millionen erfasst sind.
Alternative Ordnungen und Rahmenbedingungen, unter denen das Ideal der Menschenrechte besser umgesetzt werden könnte, werden immer stärker auch auf kommunaler Ebene angedacht. Die Stadt als Zufluchts- und Schutzraum mit der Entwicklung einer (Staats-)angehörigkeit des Wohnorts ist eine dieser alternativen Ansätze.
Das Recht, Rechte zu haben
„Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird -, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.“
Mit Staatenlosen meinte Arendt nicht nur diejenigen, die formell ihre Staatszugehörigkeit verloren hatten, sondern auch diejenigen, deren Staatszugehörigkeit ihnen keine Rechte mehr sichern konnte. Dies schließt die meisten Geflüchteten, die auf dem Papier noch einem Staat angehören, ein.
„Der Verlust der Menschenrechte findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verlorengeht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind.“
Ein aus der Gemeinschaft ausgeschlossenes Dasein bezeichnet Arendt als „Verlust der Relevanz“ und „Weltlosigkeit“. Dieser Mensch gehört der Gemeinschaft, unter der er lebt, nicht an und ist gleichzeitig vollkommen von ihr abhängig. Ob er als Teil der Gemeinschaft anerkannt wird, liegt nicht in seiner Hand und daran, wie sehr er versucht, sich anzupassen, sondern an den intransparenten und auswechselbaren Kriterien der Aufnahmegesellschaft. Die Staatenlosen sind also aufgrund ihres Verstoßenseins aus der politischen Gemeinschaft ihrer Menschlichkeit beraubt.
Das Leben in Camps ist ein territorialer Ausdruck dieser Nichtanerkennung und -teilhabe an der (politischen) Gemeinschaft. Dass Geflüchtete oft lange Zeiten keiner Beschäftigung nachgehen und nicht arbeiten dürfen, trägt ebenso zu ihrer Entrechtung und Entmenschlichung bei. Denn nur durch seine Tätigkeiten kann der Mensch menschlich werden, Anerkennung vor sich selbst und anderen finden und sich aus der Abhängigkeit von Wohlfahrtsorganisationen und Gönnern befreien.
Hannah Arendts Analyse ist grundsätzlich eurozentriert und von ihrer Perspektive und Stellung als weiße, intellektuelle Europäerin geprägt, die selbst in den Zeiten der nationalsozialistischen Verfolgungen eine vergleichsweise privilegierte Position innehatte. Wenn sie vom menschlichen Sein im politischen Handeln und Teilhaben spricht, beschränkt sie das oft auf die ‚zivilisierte Welt‘, die von der ‚barbarischen‘ (beispielsweise auf dem sogenannten „schwarze[n] afrikanische[n] Kontinent“) unterschieden werden müsse. Selbstverständlich ist diese Einteilung der Welt auf der belasteten und unbrauchbaren aufklärerischen Idee des Fortschritt fußend genauso abzulehnen wie Arendts an vielen Stellen offenkundiger Rassismus. Arendt weiterdenken bedeutet, die Gültigkeit der aus ihren persönlichen Fluchterfahrungen resultierenden Beobachtungen unter anderen Bedingungen zu prüfen und mit Theorien aus relevanten Feldern wie dem Postkolonialismus ins Gespräch zu bringen.
Verlust der Identität – Brüche im Leben
„Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt.“
Arendts Feststellung bezieht sich einerseits auf die Scham, schwach und abhängig von fremder Hilfe zu sein; andererseits auf das Wissen, dass die Fremdzuweisung „Flüchtling“ erst den Status der „feindlichen Ausländerin“ (enemy alien) schafft und das Verstoßensein im Sinne des schutzlosen, bloßen Menschseins hervorruft.
Das Konstrukt der „illegalen Migration“ setzt sich fort. Die Bürde der „feindlichen Ausländer“ tragen heute Menschen, in deren Dokumenten „Duldung“ oder in deren Akten „sicherer Herkunftsstaat“ steht. Wie auch immer ein Status in den unterschiedlichen Staaten benannt wird, er sagt etwas über unsere Erwünschtheit und über unsere Rechte. Und er zementiert die rechtliche Unterscheidung zwischen Bürger*innen auf der einen und Ausländer*innen auf der anderen Seite.
Was die Benennung als Staatenlose*r und Geflüchtete*r aber auch in sich birgt, ist der Verlust der Identität. Die Fremdzuschreibung „Flüchtling“ überschreibt alle Leistungen und Errungenschaften des zuvor geführten Lebens.
„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit unseres Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“
Wer aber verbergen will, ein ‚Flüchtling‘ zu sein, muss auch verbergen, was er oder sie zuvor war. Und wer seinen Status verbirgt, der kann sich auch nicht aus ihm befreien, nicht wieder in den Rang der Menschheit aufgenommen werden.
„Jene wenigen Flüchtlinge, die darauf bestehen, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie anstößig ist, gewinnen im Austausch für ihre Unpopularität einen unbezahlbaren Vorteil: Die Geschichte ist für sie kein Buch mit sieben Siegeln und Politik kein Privileg der Nichtjuden mehr. […] Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentierten die Avantgarde ihrer Völker – wenn sie ihre Identität aufrechterhalten.“
Diese Verlusterfahrung von Geflüchteten ist universell, und doch ist das, was verloren geht, so individuell, dass es nur auf dieser Ebene geachtet werden kann. Im We Refugees Archiv erzählen Menschen von diesem Bruch – und dem Zusammenhang – zwischen dem Leben davor und danach, Verlust und Neuaufbau, Trennung und Aufnahme.