Berlin seit dem 2. Weltkrieg – Exil, Transit, Notunterkunft
Flucht aus Berlin, die die Stadt besonders in den 1930er und 1940er Jahren kennzeichnete, wandelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Flucht nach Berlin. Bereits vor der Wiedervereinigung boten West- wie auch Ost-Berlin Gefüchteten Zuflucht. Heute genießt die Stadt den Ruf einer vielfältigen, offenen, von Migration geprägten und anziehenden Metropole und Zufluchtsstadt, die Raum für politische, soziale und kulturelle Selbstorganisation-, vernetzung und -äußerung bietet. Inwieweit sie tatsächlich ein sicheres Exil für Menschen mit diversen Fluchterfahrungen bieten kann, ist jedoch angesichts der prekären Situation vieler Geflüchteter fraglich.
Die Geschichte der Zuflucht ins Nachkriegsberlin begann bereits mit der vorübergehenden Unterbringung von Displaced Persons (DPs) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in DP-Camps in allen vier Besatzungszonen der Stadt sowie mit der Ankunft von Vertriebenen aus Ostpreußen. Über die noch offenen Sektorengrenzen flohen bis zum Mauerbau 1961 Hunderttausende Bürger*innen der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nach West-Berlin. Viele zogen weiter gen Westen und nur wenige blieben in der Stadt. (West-)Berlin wurde zu einer Stadt des Transits.
Der während des Nationalsozialismus konsequent zerstörte kosmopolitische Charakter der Stadt kehrte langsam mit der Fluchtmigration nach (West-)Berlin und mit den Arbeitsmigrant*innen ab Anfang der 1960er Jahren, besonders aus der Türkei, wieder zurück.
In den 1970er Jahren entwickelten sich West- und auch Ostberlin zur Exilstadt: Mit dem Regimewechsel in Chile 1973 und im Iran 1979 fanden Exilsuchende auf beiden Seiten der Berliner Mauer Aufnahme. Viele Intellektuelle und Künstler*innen aus Osteuropa, dem Einflussbereich der UdSSR, aus der Türkei und Geflüchtete aus der DDR wie auch sogenannte Boatpeople aus Vietnam erreichten die Exilstadt West-Berlin. Ab den 1990er Jahren wurde das wiedervereinigte Berlin beliebtes Domizil für sogenannte „jüdische Kontingentflüchtlinge,“ die der kollabierenden Sowjetunion entkamen. 11Kleff, Sanem/Seidel, Eberhard, 2008: Stadt der Vielfalt. Das Entstehen des neuen Berlin durch Migration, hrsg. vom Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration, p. 112-114: https://www.berlin.de/lb/intmig/veroeffentlichungen/einwanderungsgeschichte/ (29.07.2020).
„Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau das Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte. […] Die vielen Händler, die jede Woche aus Moskau nach West-Berlin und zurückflogen, um ihre Import-Export-Geschäfte zu betreiben, brachten diese Nachricht in die Stadt. […] Viele Leute verschiedener Nationalität wollten plötzlich Jude werden und nach Amerika, Kanada oder Österreich auswandern. Ostdeutschland kam etwas später dazu und war so etwas wie ein Geheimtipp. […] Die Fahrkarte kostete nur 96 Rubel, und für Ost-Berlin brauchte man kein Visum. Mein Freund Mischa und ich kamen im Sommer 1990 am Bahnhof Lichtenberg an.“ 22Kaminer, Wladimir, 2000: Russendisko, München, pp. 9 ff.
Berlin als kosmopolitische Zufluchtsstadt seit 1990
Nach dem Fall der Mauer entwickelte sich Berlin als wiedervereinigte Stadt zunehmend zum kosmopolitischen Anziehungspunkt für Migrant*innen und machte sich innerhalb Deutschlands und international einen Ruf als „Stadt der Vielfalt“, der Subkulturen und des politischen Aktivismus, die den Boden für vielfältige Formen migrantischer (politischer und sozialer) Selbstorganisation und kulturell-künstlerischer Reflexion von Migrationserfahrungen gab.
„Berlin akzeptiert nicht, dass es nur eine bestimmte Farbe für sich und seine Bewohner gibt. Es versucht, eine neue Identität aus den verschiedenen Identitäten zu bilden.“ 33Nabi, Widad, 2018: Sieben Gründe, sich in Berlin zu verlieben, erstmals veröffentlicht in: Weiter Schreiben, URL: https://weiterschreiben.jetzt/texte/widad-nabi-sieben-gruende-sich-in-berlin-zu-verlieben/ (11.06.2020). Übersetzung aus dem Arabischen von Suleman Taufiq.
Als Zufluchtsstadt für Geflüchtete vor verschiedenen Konflikten, individuellen Verfolgungsformen und Existenzbedrohungen, die sich aus dem Klimawandel und extremer Armut entwickelten, gewann Berlin dabei in den 2010er Jahren als Schutzgeberin für Schutzsuchende verstärkt Aufmerksamkeit. Spätestens seit dem Sommer 2015, in dem Deutschland und insbesondere seine Hauptstadt zum Hoffnungsort vor allem für Geflüchtete aus dem seit 2011 kriegsgeplagten Syrien und anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde, ist das Thema Fluchtmigration und Asylpolitik in Berlin, Deutschland und Europa in das Zentrum gesellschaftlicher und politischer Debatten gerückt. Der Zauber der „Willkommenskultur“ von 2015 weicht dabei zunehmend einer restriktiven Asylpolitik, die – vor allem auf EU- und nationaler Ebene entschieden – auch Berlin betrifft und sich leicht an den sinkenden Zahlen von Asylanträgen ablesen lässt: Während 2015 noch 55.001 Asylanträge in Berlin gestellt wurden, waren es 2019 nur 6.316. 44Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin, 2020: Zahlen und Fakten. Zugangslage Flüchtlinge, in: berlin.de: https://www.berlin.de/laf/ankommen/aktuelle-ankunftszahlen/artikel.625503.php (08.09.2020).
Sicheres Exil, prekäre Transitstadt oder unerreichter Hoffnungsort?
Ob Berlin heute als (sichere und langfristige) Zufluchts- und Aufnahmestadt für Geflüchtete zu beschreiben ist, ist nicht eindeutig zu beantworten.
Das bedeutet für das We Refugees Archiv, die heutigen sehr diversen Erfahrungen von Menschen nach der Flucht und dabei die Rolle Berlins beispielhaft zu beschreiben. Für welche geflüchteten Menschen stellt Berlin einen Zufluchtsort dar? Welche – besonders rechtlichen – Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit Berlin zur Exilstadt wird? Und für wen und aus welchen Gründen ist Berlin nur ein Transitort, ein zeitweiliger Anker in der europäischen Odysee von Geflüchteten?
Geflüchtete Menschen, denen das Recht zum Aufenthalt gewährt wird, erhalten in Berlin Chancen des Neuanfangs und Hoffnung auf Zukunft. Aber was ist mit den Menschen, die oft einen langen Fluchtweg über das Mittelmeer und kreuz und quer durch Europa, keinen Zugang zu grundlegenden sozialen, ökonomischen und politischen Rechten erhalten, da ihnen das Recht zum Aufenthalt und zur Staatsbürgerschaft vorenthalten wird? Und wie verhält sich Berlin zu den vielen Menschen, die aufgrund der zunehmenden Abschottung Europas vor oder an dessen Grenzen verharren und keine Chance auf Zuflucht in Berlin und anderen europäischen Städten erhalten?
Berlin als Exilstadt zu bezeichnen, bedeutet den Begriff Exil zu erweitern und neu zu denken. Es gilt, über den bisherigen Fokus auf (besonders kulturelle und künstlerische) Eliten und die scheinbar untrennbare Verbindung mit der Zeit des Nationalsozialismus hinauszugehen und die Langfristigkeit des Exils, die der Verwendung des Begriffs innewohnt, in Frage zu stellen und zu öffnen.
Der ägyptische Soziologe Amro Ali charakterisiert Berlin als Exilhauptstadt mit enormem Potenzial als bedeutendes politisches Labor. Er vergleicht ‚das arabische Berlin‘ mit dem, was New York für jüdische Exilant*innen war, die in den 1930er und 1940er Jahren aus Europa flohen, oder mit Paris, das lateinamerikanischen Exilant*innen in den 1970er und 1980er Jahren ein Zuhause gab. Er bezieht sich auf die arabischen Intellektuellen und Künstler*innen in Berlin, die über Netzwerke des Exils ihre Fragmentierung, lähmende politische Verzweiflung und Inaktivität überwinden könnten. 55Ali, Amro, 2019: Über die Notwendigkeit, der arabischen Exil-Szene in Berlin eine Form zu geben. In: dis:orient: https://www.disorient.de/blog/ueber-die-notwendigkeit-der-arabischen-exil-szene-berlin-eine-form-zu-geben (17.07.2020).
Aber Berlin ist weit mehr als Exilstadt, sie beinhaltet als Stadt Erfahrungen, die, meist erzwungenermaßen, weit kurzfristiger und prekärer angelegt sind. In diesem fragmentierten Berlin als Zufluchtsort finden sich Gefüchtete, denen die Möglichkeiten, ihren Aufenthalt in Berlin auf dem Rechtsweg zu garantieren, verschlossen ist.
Für die einen, die eine Anerkennung als Flüchtling erhalten oder erwarten können, kann sich Berlin zu einem Exil und/oder zu einer neuen Heimat entwickeln. Alle anderen laufen die Gefahr der Illegalisierung oder der Abschiebung, die für viele eine Rückkehr in ihnen unbekannte oder für sie lebensgefährliche Orte bedeutet.
Fußnoten
1Kleff, Sanem/Seidel, Eberhard, 2008: Stadt der Vielfalt. Das Entstehen des neuen Berlin durch Migration, hrsg. vom Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration, p. 112-114: https://www.berlin.de/lb/intmig/veroeffentlichungen/einwanderungsgeschichte/ (29.07.2020).
2Kaminer, Wladimir, 2000: Russendisko, München, pp. 9 ff.
3Nabi, Widad, 2018: Sieben Gründe, sich in Berlin zu verlieben, erstmals veröffentlicht in: Weiter Schreiben, URL: https://weiterschreiben.jetzt/texte/widad-nabi-sieben-gruende-sich-in-berlin-zu-verlieben/ (11.06.2020). Übersetzung aus dem Arabischen von Suleman Taufiq.
4Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin, 2020: Zahlen und Fakten. Zugangslage Flüchtlinge, in: berlin.de: https://www.berlin.de/laf/ankommen/aktuelle-ankunftszahlen/artikel.625503.php (08.09.2020).
5Ali, Amro, 2019: Über die Notwendigkeit, der arabischen Exil-Szene in Berlin eine Form zu geben. In: dis:orient: https://www.disorient.de/blog/ueber-die-notwendigkeit-der-arabischen-exil-szene-berlin-eine-form-zu-geben (17.07.2020).