Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung

Das Wort „Ausgrenzung“ beinhaltet das Wort „Grenze“. Wer ausgrenzt, errichtet eine Grenze zwischen sich und anderen. Ausgrenzungsmechanismen finden nicht nur innerhalb von Gesellschaften statt, sondern auch an den Außengrenzen bestimmter Nationalstaaten (und Staatenverbünde) oder weit von diesen Grenzen entfernt. Was dabei gemeinhin als Diskrimi­nierung und was als gesellschaftlich zulässige bzw. nicht rechtlich zu belangende Ungleichbehandlung gilt, ist abhängig vom jeweiligen historischen Kontext und wird seit Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1948 zunehmend kontrovers diskutiert. Die strukturelle Ausgrenzung geht dabei mit einem stereotypisierenden Diskurs einher, der Menschen auf ihre „Flucht“ reduziert und ihrer Individualität und ihres Menschseins beraubt.

Die Reflexionen von Ungleich­behandlung von Migrant*innen und Geflüchteten, darunter Staatsbürger*innen, Staatenlose und Ausländer*innen, durchziehen in den historischen und aktuellen Selbstzeugnissen das gesamte We Refugees Archiv.

Dabei lässt das bestehende Recht, welches Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat voraussetzt, vor allem die Diskriminierung von Nicht-­Staatsangehörigen zu: ein gesellschaftlich hingenommener Missstand, der die substanziel­le Ambivalenz zwischen dem Anspruch auf universelle Menschen­rechte und den tatsächlich bestehenden Rechten von Staatsbürger*innen aufzeigt. 11Scheer, Albert, 2016: Diskriminierung/Antidiskriminierung – Begriffe und Grundlagen, pp. 3-10 in: APuZ 9/2016, p. 7: https://www.bpb.de/apuz/221573/diskriminierung-antidiskriminierung-begriffe-und-grundlagen (04.12.2020). Hannah Arendt formulierte diese Diskrepanz bereits 1951 in ihrer Analyse totalitärer Herrschaft:

„Staatenlosigkeit in Massendimensionen hat die Welt faktisch vor die unausweichliche und höchst verwirrende Frage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie unabdingbare Menschenrechte gibt, das heißt Rechte, die unabhängig sind von jedem besonderen politischen Status und einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen.“ 22Arendt, Hannah, 1986: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 20. Aufl. (2017). München und Berlin: Piper. (amerik. Original 1951), p. 607.

Der Diskriminierungsschutz besteht also nur für Staatsangehörige und lässt damit sowohl Staatsangehörige auf dem Territorium eines anderen Staates als auch Staatenlose größtenteils außen vor, gleichwohl auch Staatsangehörige aufgrund anderweitiger Kategorisierungen von Diskriminierung betroffen sind. Angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlich weitgehend akzeptierten Verweigerung von Einwanderungs- und Aufenthaltsrechten für sogenannte „Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge“ bleibt das Diskriminierungsverbot, das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 (Art. 2) beschlossen wurde, von hoher Aktualität für deren Überwindung:

Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen, nach Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. 33Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Dezember 1948: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf.

Innerhalb der Grenzen eines Staates findet die Ausgrenzung bzw. der Ausschluss, das „doing borders“ statt, der sich im ungleichen Zugang zu Rechten, Ressourcen und Räumen auf nationaler und lokaler Ebene, also auf der Ebene der Kommunen äußert: in Schulen, im Jobcenter, auf den Arbeits- und auf Wohnungsmärkten und in öffentlichen Debatten. Die hier greifenden Ausgrenzungsmechanismen verhindern wiederum die Integration, die die Mehrheitsgesellschaft Migrant*innen abfordert. Diesen Mangel an Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen erlebten und erleben Geflüchtete früher wie auch heute: Im Paris der 1930er suchten die Exilierten verzweifelt, sich trotz des Arbeitsverbotes über Wasser zu halten. Im Berlin der 2010er sind es insbesondere Geflüchtete mit unsicherem Aufenthaltsstatus, so zum Beispiel der Duldung, die kaum eine Chance haben, sich durch Beruf und Bildung ein Leben am neuen Ort aufzubauen und an der Gesellschaft teilzuhaben. Auch wenn das Konstrukt der „illegalen Migration“ durchgängig bleibt, sind die rechtlichen Kategorien, die diese Ausgrenzung rechtfertigen, wandelbar und oft willkürlich. In besonderer Absurdität äußerte sich dies im Zweiten Weltkrieg durch die Kategorie des „enemy alien“ (feindlichen Ausländers), die die Internierung von Menschen aus verfeindeten Staaten rechtfertigte, selbst wenn diese von genau diesen Staaten (insbesondere Deutschland) verfolgt und durch Entzug der Staatsbürgerschaft staatenlos gemacht und sie vor Kriegsbeginn wegen ihrer Emigration benachteiligt worden waren.

Zudem gibt es oft Hürden, die die Durchsetzung des heute gesetzlich vorgesehenen Schutzes vor Diskriminierung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure vorsieht, verhindern: Geflüchtete ohne gesicherten Aufenthaltsstatus schrecken beispielsweise oft davor zurück, erfahrene Diskriminierungen zur Anzeige zu bringen; aus Angst, dass daraus ein Nachteil für sie und ihren Anerkennungsprozess entstehen könnte, und aus Misstrauen in staatliche Behörden, das auf schlechten Erfahrungen beruht.

Es erfolgen ebenso Grenzsicherungen, die der Abschottung und Ausgrenzung von Geflüchteten im Inneren der einzelnen Nationalstaaten dienen, so z.B. in Form der geltenden Residenzpflicht für Geflüchtete, von Sammelunterkünften, von massiven Polizeieinsätzen gegen Proteste von Geflüchteten oder Racial Profiling von Polizeibeamt*innen.

In den meisten Fällen erfolgt die Ausgrenzung von Geflüchteten aber schon vor den Grenzen des Nationalstaats oder Staatenverbundes. Während die eigenen Grenzen immer stärker abgesichert werden, wird das „Migrationsproblem“ oft externalisiert, das heißt weit vor den eigenen Grenzen in das Abhalten von Migrant*innen investiert und Vereinbarungen mit Drittstaaten getroffen, die sich um ihre Versorgung kümmern und ihren weiteren Weg hin zu den „eigenen“ Grenzen verhindern sollen. 44Jakob, Christian / Schlindwein, Simone, 2018: Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Bonn: bpb. Große Lager für Geflüchtete sind auch an und vor den Grenzen, beispielsweise Europas, ein Ausdruck dieser lokalen und rechtlichen Ausgrenzung: Der provisorische Zustand eines Lagers wird zum Dauerzustand der Unterversorgung und Entrechtung und sichert die Abgrenzung vom „normalen“ Leben der Gesellschaft. Auch diese Abschottungspolitik blickt auf eine lange Geschichte zurück: Berichte von Niemandsländern vor geschlossenen Grenzen nicht aufnahmewilliger Staaten, das verzweifelte Ringen um Visa, die die Flucht vor den vordringenden deutschen Nationalsozialisten in Europa ermöglichen würden, durchziehen die historischen Selbstzeugnisse. Verhandlungen über eine internationale Aufnahme der Geflüchteten wie auf der Konferenz von Évian 1938 scheiterten ähnlich wie heutige ins Leere laufende Versuche, gemeinsame und gerecht verteilte Aufnahmestrategien gegen nationalen Egoismus durchzusetzen.

Im Fall, dass Geflüchtete ein für sie zunächst sicheres Land erreichen und dort aufgenommen werden, sind sie gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt. Alle Erfahrungen von Diskriminierung, die Menschen im We Refugees Archiv teilen, haben gemeinsam, dass die Menschen aufgrund ihrer Existenz als Geflüchtete, ihres Aussehens, ihres Namens, ihrer (zugeschriebenen) Herkunft oder scheinbaren Identität ins Visier genommen werden. Die oben bestehenden strukturellen und gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen und ein stereotypisierender Diskurs damals und heute über „die Flüchtlinge“ führt dazu, dass sich diese Menschen nicht nur praktischer Diskriminierung ausgesetzt fühlen, sondern auch darunter leiden, nicht mehr in der Komplexität ihres Menschseins und ihrer Unterschiedlichkeit anerkannt zu werden.

Die Selbstzeugnisse in Vergangenheit und Gegenwart weisen auf Ungleichbehandlungen, mangelnde Repräsentation und versperrte Zugänge zu gesellschaftlichen und lebensnotwendigen Ressourcen hin. Oft spielt das Misstrauen, ob man „wirklich geflüchtet“ ist, eine zentrale Rolle. Ein weiterer belastender Aspekt sind Mehrfachdiskriminierungen, so z.B. für schwarze geflüchtete Frauen oder queere Geflüchtete, die, der Verfolgung in ihrem Heimatland entkommen, in Deutschland weiterhin diskriminiert werden und aufgrund mehrerer zugeschriebener Diskriminierungskategorien besonders vulnerabel sind. Die Analyse der Interviews zeigt, dass mehrdimensionale (intersektionale) Diskriminierungen individuelle Lebenssituationen beeinflussen und den Ausschluss vor zentralen gesellschaftlichen Ressourcen noch erhöhen können.

    Fußnoten

  • 1Scheer, Albert, 2016: Diskriminierung/Antidiskriminierung – Begriffe und Grundlagen, pp. 3-10 in: APuZ 9/2016, p. 7: https://www.bpb.de/apuz/221573/diskriminierung-antidiskriminierung-begriffe-und-grundlagen (04.12.2020).
  • 2Arendt, Hannah, 1986: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 20. Aufl. (2017). München und Berlin: Piper. (amerik. Original 1951), p. 607.
  • 3Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Dezember 1948: https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf.
  • 4Jakob, Christian / Schlindwein, Simone, 2018: Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Bonn: bpb.

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„Ich brauche einfach einen Ort, den ich mein Zuhause nennen kann, wo ich meine Klamotten aus dem Koffer holen und sicherstellen kann, dass ich mein Gepäck nicht für lange Zeit sehen kann…… einfach meine Sachen nicht aus dem Koffer holen und einen Schrank, einen Raum, einen Ort haben, den ich Zuhause nennen kann.“
„Kein Mazzesbäcker in Schepetowka oder Berditschew hat je geahnt, dass seine Nachfahren das gleiche Gewerbe in Paris betreiben und über ihrer Backküche die stolzen Worte prangen werden: ‚Fabrique du pain azymé.'“
„Die Vermieterinnen freuten sich, uns mitzuteilen, dass wir eine „berühmte“ Wohnung gemietet hatten; Leon Trotzki hatte dort nach seiner Vertreibung aus Russland […] gewohnt. Auch er war ein armer Flüchtling, der sich nichts Besseres leisten konnte.“

Kapitel 21