Die Entscheidung zur Flucht und Fluchterfahrungen

Auf der biografischen Ebene wird die große Heterogenität von Gründen deutlich, die Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen und zu fliehen. Ihre Flucht vollzieht sich in Etappen, die oft Jahre andauern können, bis die Menschen bestenfalls einen Ort finden, an dem sie sich in Sicherheit wähnen und sich eine Zukunft vorstellen können. Hinter dem Zwang des Verlassens der Heimat stehen vielfältige Gründe: Neben den anerkannten Fluchtgründen der Verfolgung aufgrund von ethnischen, religiösen und politischen Gründen sowie aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben sind, werden Hunger, extreme Perspektivlosigkeit und Umweltkatastrophen immer mehr zu verbreiteten Fluchtgründen.

Die Entscheidung zur Flucht trifft bzw. traf ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt, durch einen Auslöser oder konkrete persönliche Gründe, auch wenn sowohl heute als auch im Jahr 1939 zwingende Umstände dem flüchtenden Menschen wenig Entscheidungsfreiraum ließen bzw. lassen. Dabei muss immer die Gefahr, an einem Ort zu bleiben, gegen die Gefahren der Zwangsmigration aufgewogen werden. Denn eine Flucht lässt sich nicht planen, bringt viele Gefahren für Leib und Leben und traumatische Erfahrungen mit sich, führt über unvorhergesehene Umwege und Zwischenaufenthalte, die manchmal jahrelang dauern. 11Oltmer, Jochen, 2015: Fluchtursachen, Fluchtwege und die neue Rolle Deutschlands, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (12), pp. 19ff. Diese Unsicherheit resultiert aus dem Mangel an legalen und geschützten Wegen für flüchtende Menschen und ihrem Verlust von Rechten und staatlichem Schutz, den schon Hannah Arendt in ihrer Analyse der Staatenlosigkeit beschrieb. Durch den Mangel an offiziellen Fluchtwegen und Unterstützungsstrukturen sind Geschichten von Flucht auch die von inoffiziellen Rettungs- und Fluchthilfenetzwerken aber auch denen, die aus der Notlage flüchtender Menschen Profit schlagen wollen.

Im We Refugees Archiv werden beispielhaft Erfahrungen von Geflüchteten der heutigen Zeit aufgezeigt, die ihre Entscheidung getroffen haben, um Bürgerkriegssituationen ebenso wie Perspektivlosigkeit oder anderen existenziellen Bedrohungen zu entkommen. Einige biografische Zeugnisse zeigen auf, dass die Menschen ihre Migration nicht als Flucht beschreiben. Ob es im aktuellen Kontext daran liegt, dass die Menschen ihre Entscheidung trotz bestimmter Umstände als freiwillig einordnen oder versuchen, eine negative, gesellschaftliche Zuschreibung zu umgehen, kann nur auf individueller Ebene geklärt werden. Zunehmend sind Mischformen von Zwangsmigration und freiwilliger Migration zu beobachten, die es immer schwieriger gestalten, die Motive und Wege von Geflüchteten und Migrant*innen klar zu unterscheiden. Die jüdischen Geflüchteten aus historischer Perspektive hingegen sprachen eindeutig von ihrer Flucht vor den deutschen Besatzern. Gerade der Blick auf die individuellen Erfahrungen zeigt aber viele Parallelen in der Reflexion über die Flucht: Die Gründe, Entscheidungen, Abschiede und Gefahren auf dem Fluchtweg prägen und beschäftigen geflohene Menschen auch nach ihrer Ankunft an einem sichereren Ort.

Das Beispiel der panischen und plötzlichen Flucht von Jüdinnen*Juden vor der Polen überfallenden Wehrmacht in das noch neutrale und sichere Vilnius im Herbst 1939 unterscheidet sich von der Flucht aus beständig unsicheren und perspektivlosen Lebenslagen, die von jungen Geflüchteten in Palermo oder anderswo heute geschildert wird.

Bestimmte Fluchträume, Niemandsländer und Sackgassen werden zu Symbolen der persönlichen wie auch politischen Auseinandersetzung mit Flucht: Dazu gehören das Mittelmeer und sogenannte “Niemandsländer,” die während des Zweiten Weltkrieges als rechtsfreie Sackgassen in Grenzgebieten entstanden. Das Gebiet nahe Suwałki an der damaligen Grenze zwischen dem besetzten Polen und dem noch unbesetzten Litauen ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Niemandsländer entstehen auch heute in Europa und weltweit: rechtsfreie Nicht-Orte, in denen Geflüchtete unter schrecklichen Bedingungen ausharren müssen.

Ob die Menschen, die in Vilnius vorübergehend Zuflucht fanden, ihre Leben durch weitere Fluchtetappen retten konnten, ist ungewiss. Die jüdische Bevölkerung und damit auch die jüdischen Geflüchteten wurden nach der Besetzung Litauens durch Deutschland fast vollständig ermordet.

An dieser Stelle wird eine Vergleichbarkeit mit den Erfahrungen der heute in Palermo gelandeten Geflüchteten unmöglich. Ihre Erfahrungen wiederum sind Geschichten des Überlebens und sprechen somit nicht für alle diejenigen, die auf dem Weg nach Sizilien ihr Leben verloren haben.

    Fußnoten

  • 1Oltmer, Jochen, 2015: Fluchtursachen, Fluchtwege und die neue Rolle Deutschlands, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte (12), pp. 19ff.

Filme 10

„Die Vermieterinnen freuten sich, uns mitzuteilen, dass wir eine „berühmte“ Wohnung gemietet hatten; Leon Trotzki hatte dort nach seiner Vertreibung aus Russland […] gewohnt. Auch er war ein armer Flüchtling, der sich nichts Besseres leisten konnte.“

Kapitel 11