„Man muss ein Optimist und sehr stark sein, wenn man eine neue Existenz aufbauen möchte.“
Menschen fliehen nicht nur, um einer wie auch immer gearteten Gefahr für Leib und Leben zu ent-kommen. Flucht ist gleichzeitig eine Zukünftigkeit inhärent, ein Blick nach vorne also, in dem sich die Hoffnung auf ein sicheres Ankommen mit dem individuellen Willen für einen Neuanfang und konkrete Visionen für die Zukunft verbinden. Schon Hannah Arendt wies auf den etymologischen Kern des Wortes „Zu-kunft“ hin, der die Bewegung des Auf-sich-zu-kommens buchstäblich in sich trägt. Sie signalisierte so das Potential einer radikalen Freiheit durch Mobilität, die diesem Zukunftsbegriff selbst eingeschrieben ist. Das, was vor einem liegt, erwächst somit nicht zwangsläufig aus der Vergangenheit oder wird durch sie bestimmt, sondern baut auf das Individuum, das eigene und kollektive Noch-Nicht proaktiv mitzugestalten.
Diesem migrantischen Zeitkontinuum stehen jedoch häufig fast unüberwindbare Hindernisse der Gegenwart entgegen. Geflüchtete Menschen befinden sich oft jahrelang in einem Zustand der Ungewissheit, erzwungener Inaktivität in überfüllten Gemeinschaftsunterkünften und leiden unter rechtlicher Diskriminierung, Rassismus und dem indoktrinierten Gefühl einer Bring-schuld. Wenn durch erlebte Hindernisse oder fehlende Perspektiven die Hoffnung auf einen Neuanfang verloren geht, hat dies oft fatale psychologische Folgen für die Betroffenen. So haben die Möglichkeiten für einen Neuanfang und Existenzaufbau häufig extrem unterschiedliche und unkontrollierbare Startvoraussetzungen, die von zeitlichen, räumlichen, politischen und individuellen Kriterien abhängen. Essenziell bleibt der gesellschaftliche Zugang über Sprache, (Aus-)Bildung, Gemeinschaft und gegenseitiger kultureller Anerkennung. Das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung ist dabei immer verhängnisvoll verflochten mit der Gefahr, ein selbstbestimmtes, von unklaren Kriterien der Integration abhängiges Leben und Selbstbild aufgeben zu müssen.
„Wir sind (und waren bislang immer) bereit, jeden Preis zu zahlen, um von der Gesellschaft angenommen zu werden.“
Tausende jüdische Geflüchtete versuchten im Vilnius der anfänglichen 1940er Jahre zu überleben und sich auf ihre Weiterfahrt oder eine mögliche Emigration nach Palästina, Amerika oder andere Sicherheit versprechende Orte vorzubereiten. Ebenso wie sie befinden sich geflüchtete Menschen in Europa, so zum Beispiel in Palermo, heute oft jahrelang in einem Zustand der Ungewissheit und des Wartens. Dabei stellt sich die Frage, ob staatliche Einwanderungsrestriktionen einen zukünftigen Verbleib in der Aufnahmestadt mit Aussicht auf einen entsprechendem Neuanfang überhaupt zulassen. In dem Wissen, dass sie jeden Tag weiterfliehen oder abgeschoben werden könnten, gestaltet(e) sich das Streben nach dem Aufbau einer Zukunft am Zufluchtsort schwer. Dennoch versuchen sie unter den gegebenen Bedingungen alles, um sich durch Bildung, Vernetzung und Arbeit das sichere und erfüllende Leben aufzubauen, auf das sie zukommen wollten.